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Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855.

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Ionische Ordnung.

Neben der dorischen Ordnung entwickelte sich als deren schönstes
Gegenbild die ionische; anfänglich in andern Gegenden entstanden,
auch wohl für gewisse Zwecke vorzugsweise angewandt, wurde sie
doch mit der Zeit ein völlig frei verwendbares Element der griechi-
schen Gesammtbaukunst. Leider ist in den griechischen Colonien Ita-
liens kein irgend beträchtlicher Ueberrest echter ionischer Ordnung
erhalten und die römischen Nachahmungen geben bei aller Pracht doch
nur ein dürftiges, erstarrtes Schattenbild von dem Formgefühl und dem
feinen Schwung des griechischen Vorbildes. -- Die Grundlage ist im
Wesentlichen dieselbe, wie bei der dorischen Ordnung, die Durchbil-
dung aber eine verschiedene. Die ionische Säule ist ein zarteres Wesen,
weniger auf den Ausdruck angestrengten Tragens als auf ein reiches
Ausblühen angelegt. Sie beginnt mit einer Basis von zwei Doppel-
wulsten, einem weitern und einem engern, deren inneres Leben sich
durch eine schattenreiche Profilirung verräth. (An den römischen Über-
resten entweder glatt oder mit reichen, aber beziehungslosen Orna-
menten bekleidet). Ihr Schaft ist viel schlanker und weniger stark
verjüngt, als der dorische; seine Ausbauchung ein eben so feiner Kraft-
messer als bei diesem. Die Cannelirungen nehmen nicht die ganze
Oberfläche des Schaftes ein, sondern lassen schmale Stege zwischen
sich, zum Zeichen, dass sich die ionische Säule nicht so anzustrengen
habe, wie die dorische. (An den römischen Ueberresten fehlen hier
wie bei allen Ordnungen die Cannelirungen oft, ja in der Regel; mit
grossem Unrecht, indem sie kein Zierrath, sondern ein wesentlicher
Ausdruck des Strebens sind und auf die bewegte Bildung des Capi-
täls und Gesimses nothwendig vorbereiten.) Das ionische Capitäl, an
den alten athenischen Bauten von unbeschreiblicher Schönheit und Le-
bendigkeit, setzt über einem verzierten Hals mit einem Echinus an;
dann aber folgt, wie aus einer weichen, ideal-elastischen Masse gebildet,
ein oberes Glied, gleichsam eine Blüthe des Echinus selbst, die auf beiden
Seiten in reich gewellten Voluten (Schnecken) herniederquillt und sich,
von vorn gesehen, in zwei prächtigen Spiralen aufrollt. Die Deck-
platte, welche bei einer ernsten, dorischen Bildung dieses ganze reiche
Leben tödten würde, ist nur als schmales, verziertes, ausgeschwunge-
nes Zwischenglied zwischen das Capitäl und das Gebälk hineingescho-
ben. (An den römischen Überresten: Hals und Echinus schwer und

Ionische Ordnung.

Neben der dorischen Ordnung entwickelte sich als deren schönstes
Gegenbild die ionische; anfänglich in andern Gegenden entstanden,
auch wohl für gewisse Zwecke vorzugsweise angewandt, wurde sie
doch mit der Zeit ein völlig frei verwendbares Element der griechi-
schen Gesammtbaukunst. Leider ist in den griechischen Colonien Ita-
liens kein irgend beträchtlicher Ueberrest echter ionischer Ordnung
erhalten und die römischen Nachahmungen geben bei aller Pracht doch
nur ein dürftiges, erstarrtes Schattenbild von dem Formgefühl und dem
feinen Schwung des griechischen Vorbildes. — Die Grundlage ist im
Wesentlichen dieselbe, wie bei der dorischen Ordnung, die Durchbil-
dung aber eine verschiedene. Die ionische Säule ist ein zarteres Wesen,
weniger auf den Ausdruck angestrengten Tragens als auf ein reiches
Ausblühen angelegt. Sie beginnt mit einer Basis von zwei Doppel-
wulsten, einem weitern und einem engern, deren inneres Leben sich
durch eine schattenreiche Profilirung verräth. (An den römischen Über-
resten entweder glatt oder mit reichen, aber beziehungslosen Orna-
menten bekleidet). Ihr Schaft ist viel schlanker und weniger stark
verjüngt, als der dorische; seine Ausbauchung ein eben so feiner Kraft-
messer als bei diesem. Die Cannelirungen nehmen nicht die ganze
Oberfläche des Schaftes ein, sondern lassen schmale Stege zwischen
sich, zum Zeichen, dass sich die ionische Säule nicht so anzustrengen
habe, wie die dorische. (An den römischen Ueberresten fehlen hier
wie bei allen Ordnungen die Cannelirungen oft, ja in der Regel; mit
grossem Unrecht, indem sie kein Zierrath, sondern ein wesentlicher
Ausdruck des Strebens sind und auf die bewegte Bildung des Capi-
täls und Gesimses nothwendig vorbereiten.) Das ionische Capitäl, an
den alten athenischen Bauten von unbeschreiblicher Schönheit und Le-
bendigkeit, setzt über einem verzierten Hals mit einem Echinus an;
dann aber folgt, wie aus einer weichen, ideal-elastischen Masse gebildet,
ein oberes Glied, gleichsam eine Blüthe des Echinus selbst, die auf beiden
Seiten in reich gewellten Voluten (Schnecken) herniederquillt und sich,
von vorn gesehen, in zwei prächtigen Spiralen aufrollt. Die Deck-
platte, welche bei einer ernsten, dorischen Bildung dieses ganze reiche
Leben tödten würde, ist nur als schmales, verziertes, ausgeschwunge-
nes Zwischenglied zwischen das Capitäl und das Gebälk hineingescho-
ben. (An den römischen Überresten: Hals und Echinus schwer und

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[7/0029] Ionische Ordnung. Neben der dorischen Ordnung entwickelte sich als deren schönstes Gegenbild die ionische; anfänglich in andern Gegenden entstanden, auch wohl für gewisse Zwecke vorzugsweise angewandt, wurde sie doch mit der Zeit ein völlig frei verwendbares Element der griechi- schen Gesammtbaukunst. Leider ist in den griechischen Colonien Ita- liens kein irgend beträchtlicher Ueberrest echter ionischer Ordnung erhalten und die römischen Nachahmungen geben bei aller Pracht doch nur ein dürftiges, erstarrtes Schattenbild von dem Formgefühl und dem feinen Schwung des griechischen Vorbildes. — Die Grundlage ist im Wesentlichen dieselbe, wie bei der dorischen Ordnung, die Durchbil- dung aber eine verschiedene. Die ionische Säule ist ein zarteres Wesen, weniger auf den Ausdruck angestrengten Tragens als auf ein reiches Ausblühen angelegt. Sie beginnt mit einer Basis von zwei Doppel- wulsten, einem weitern und einem engern, deren inneres Leben sich durch eine schattenreiche Profilirung verräth. (An den römischen Über- resten entweder glatt oder mit reichen, aber beziehungslosen Orna- menten bekleidet). Ihr Schaft ist viel schlanker und weniger stark verjüngt, als der dorische; seine Ausbauchung ein eben so feiner Kraft- messer als bei diesem. Die Cannelirungen nehmen nicht die ganze Oberfläche des Schaftes ein, sondern lassen schmale Stege zwischen sich, zum Zeichen, dass sich die ionische Säule nicht so anzustrengen habe, wie die dorische. (An den römischen Ueberresten fehlen hier wie bei allen Ordnungen die Cannelirungen oft, ja in der Regel; mit grossem Unrecht, indem sie kein Zierrath, sondern ein wesentlicher Ausdruck des Strebens sind und auf die bewegte Bildung des Capi- täls und Gesimses nothwendig vorbereiten.) Das ionische Capitäl, an den alten athenischen Bauten von unbeschreiblicher Schönheit und Le- bendigkeit, setzt über einem verzierten Hals mit einem Echinus an; dann aber folgt, wie aus einer weichen, ideal-elastischen Masse gebildet, ein oberes Glied, gleichsam eine Blüthe des Echinus selbst, die auf beiden Seiten in reich gewellten Voluten (Schnecken) herniederquillt und sich, von vorn gesehen, in zwei prächtigen Spiralen aufrollt. Die Deck- platte, welche bei einer ernsten, dorischen Bildung dieses ganze reiche Leben tödten würde, ist nur als schmales, verziertes, ausgeschwunge- nes Zwischenglied zwischen das Capitäl und das Gebälk hineingescho- ben. (An den römischen Überresten: Hals und Echinus schwer und

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. Basel, 1855, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_cicerone_1855/29>, abgerufen am 29.03.2024.