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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht.
nung, sei es durch Rechtsgeschäft, ex lege oder sonstwie. Ja, dies
ist im Grunde die einzige praktische Frage: wenn nach geltendem
Recht öffentlich-rechtliche Entschädigungen, z. B. Steuerver-
fügungen oder Polizeibewilligungen (vgl. oben S. 63) oder gar
zivilrechtliche Urteile, nachträglich abgeändert werden können,
mag das als unbillig oder (für Zivilurteile) widerspruchsvoll be-
zeichnet werden, aber de lege lata gibt es dann keine wohl-
erworbenen Rechte; die Erörterung hat keinen praktischen Zweck.
Sie wird aber sofort wieder praktisch, wenn der Gesetzgeber
wieder zum Worte kommt. Die Frage ist dann immer: wann muß
ein Recht, weil es einmal durch individuelle Anordnung (Urteil,
Verfügung, Rechtsgeschäft) oder durch Rechtssatz anerkannt
worden ist, auch fernerhin von der rechtssetzenden Behörde an-
erkannt bleiben ohne Rücksicht auf seine sachliche Berechtigung;
wann also die sachliche Berechtigung behufs Berichtigung über-
haupt geprüft werden dürfe und wann sie auf die gewissermaßen
prozeßhindernde Einrede des wohlerworbenen, unanfechtbaren
Rechtes stoße. Wann aber die Anfechtung, sofern sie zulässig
ist, sachlich begründet sei, ist nicht die Frage; das ist nicht eine
Sache begrifflicher Abgrenzung, sondern vernünftiger Abwägung.
Wir setzen hier immer voraus, der Gesetzgeber werde durch be-
gründete Erwägungen geleitet und das neue Recht sei sachlich
das richtigere, wie wir oben annahmen, die Änderung einer indi-
viduellen, rechtanwendenden Verfügung entspreche dem Gesetze.
Denn selbstverständlich ist es, daß der Staat nicht ohne sachliche
Berechtigung in formell gültige Rechte eingreifen kann; daß der
Gesetzgeber nicht durch Gesetz eine Vorschrift aufstellen darf,
die sachlich nicht begründet ist (so wenig wie die Verwaltungs-
behörde z. B. dem Eigentümer bewegliche Sachen zerstören oder
wegnehmen darf, wo das Gesetz solche Eingriffe nicht zuläßt);
denn die sachliche Berechtigung allein kann der Grund sein, formell
gültiges Recht abzuändern, sei es im einzelnen, sei es im Grund-
satz. Der Staat ist selbstverständlich nur dazu da, Recht an-
zuwenden und begründetes Recht zu schaffen1. Wir setzen

1 Ob eine solche rechtswidrige Verfügung oder ein sachlich unbegrün-
detes Gesetz formell, trotz seiner sachlichen Mangelhaftigkeit, verbindlich
sei oder angefochten werden könne, ist für unsere Frage gleichgültig; wir
nehmen an, die Anordnung sei, einmal getroffen, formell verbindlich und

I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht.
nung, sei es durch Rechtsgeschäft, ex lege oder sonstwie. Ja, dies
ist im Grunde die einzige praktische Frage: wenn nach geltendem
Recht öffentlich-rechtliche Entschädigungen, z. B. Steuerver-
fügungen oder Polizeibewilligungen (vgl. oben S. 63) oder gar
zivilrechtliche Urteile, nachträglich abgeändert werden können,
mag das als unbillig oder (für Zivilurteile) widerspruchsvoll be-
zeichnet werden, aber de lege lata gibt es dann keine wohl-
erworbenen Rechte; die Erörterung hat keinen praktischen Zweck.
Sie wird aber sofort wieder praktisch, wenn der Gesetzgeber
wieder zum Worte kommt. Die Frage ist dann immer: wann muß
ein Recht, weil es einmal durch individuelle Anordnung (Urteil,
Verfügung, Rechtsgeschäft) oder durch Rechtssatz anerkannt
worden ist, auch fernerhin von der rechtssetzenden Behörde an-
erkannt bleiben ohne Rücksicht auf seine sachliche Berechtigung;
wann also die sachliche Berechtigung behufs Berichtigung über-
haupt geprüft werden dürfe und wann sie auf die gewissermaßen
prozeßhindernde Einrede des wohlerworbenen, unanfechtbaren
Rechtes stoße. Wann aber die Anfechtung, sofern sie zulässig
ist, sachlich begründet sei, ist nicht die Frage; das ist nicht eine
Sache begrifflicher Abgrenzung, sondern vernünftiger Abwägung.
Wir setzen hier immer voraus, der Gesetzgeber werde durch be-
gründete Erwägungen geleitet und das neue Recht sei sachlich
das richtigere, wie wir oben annahmen, die Änderung einer indi-
viduellen, rechtanwendenden Verfügung entspreche dem Gesetze.
Denn selbstverständlich ist es, daß der Staat nicht ohne sachliche
Berechtigung in formell gültige Rechte eingreifen kann; daß der
Gesetzgeber nicht durch Gesetz eine Vorschrift aufstellen darf,
die sachlich nicht begründet ist (so wenig wie die Verwaltungs-
behörde z. B. dem Eigentümer bewegliche Sachen zerstören oder
wegnehmen darf, wo das Gesetz solche Eingriffe nicht zuläßt);
denn die sachliche Berechtigung allein kann der Grund sein, formell
gültiges Recht abzuändern, sei es im einzelnen, sei es im Grund-
satz. Der Staat ist selbstverständlich nur dazu da, Recht an-
zuwenden und begründetes Recht zu schaffen1. Wir setzen

1 Ob eine solche rechtswidrige Verfügung oder ein sachlich unbegrün-
detes Gesetz formell, trotz seiner sachlichen Mangelhaftigkeit, verbindlich
sei oder angefochten werden könne, ist für unsere Frage gleichgültig; wir
nehmen an, die Anordnung sei, einmal getroffen, formell verbindlich und
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[86/0101] I. Teil. Das Privatrecht und das öffentliche Recht. nung, sei es durch Rechtsgeschäft, ex lege oder sonstwie. Ja, dies ist im Grunde die einzige praktische Frage: wenn nach geltendem Recht öffentlich-rechtliche Entschädigungen, z. B. Steuerver- fügungen oder Polizeibewilligungen (vgl. oben S. 63) oder gar zivilrechtliche Urteile, nachträglich abgeändert werden können, mag das als unbillig oder (für Zivilurteile) widerspruchsvoll be- zeichnet werden, aber de lege lata gibt es dann keine wohl- erworbenen Rechte; die Erörterung hat keinen praktischen Zweck. Sie wird aber sofort wieder praktisch, wenn der Gesetzgeber wieder zum Worte kommt. Die Frage ist dann immer: wann muß ein Recht, weil es einmal durch individuelle Anordnung (Urteil, Verfügung, Rechtsgeschäft) oder durch Rechtssatz anerkannt worden ist, auch fernerhin von der rechtssetzenden Behörde an- erkannt bleiben ohne Rücksicht auf seine sachliche Berechtigung; wann also die sachliche Berechtigung behufs Berichtigung über- haupt geprüft werden dürfe und wann sie auf die gewissermaßen prozeßhindernde Einrede des wohlerworbenen, unanfechtbaren Rechtes stoße. Wann aber die Anfechtung, sofern sie zulässig ist, sachlich begründet sei, ist nicht die Frage; das ist nicht eine Sache begrifflicher Abgrenzung, sondern vernünftiger Abwägung. Wir setzen hier immer voraus, der Gesetzgeber werde durch be- gründete Erwägungen geleitet und das neue Recht sei sachlich das richtigere, wie wir oben annahmen, die Änderung einer indi- viduellen, rechtanwendenden Verfügung entspreche dem Gesetze. Denn selbstverständlich ist es, daß der Staat nicht ohne sachliche Berechtigung in formell gültige Rechte eingreifen kann; daß der Gesetzgeber nicht durch Gesetz eine Vorschrift aufstellen darf, die sachlich nicht begründet ist (so wenig wie die Verwaltungs- behörde z. B. dem Eigentümer bewegliche Sachen zerstören oder wegnehmen darf, wo das Gesetz solche Eingriffe nicht zuläßt); denn die sachliche Berechtigung allein kann der Grund sein, formell gültiges Recht abzuändern, sei es im einzelnen, sei es im Grund- satz. Der Staat ist selbstverständlich nur dazu da, Recht an- zuwenden und begründetes Recht zu schaffen 1. Wir setzen 1 Ob eine solche rechtswidrige Verfügung oder ein sachlich unbegrün- detes Gesetz formell, trotz seiner sachlichen Mangelhaftigkeit, verbindlich sei oder angefochten werden könne, ist für unsere Frage gleichgültig; wir nehmen an, die Anordnung sei, einmal getroffen, formell verbindlich und

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/101>, abgerufen am 29.03.2024.