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Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

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II. Teil. Die staatliche Verfassung.
Amt unvereinbar war mit dem Mandat eines Volksvertreters. Diese
Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft (als der Gesamt-
heit der nichtbeamteten Privatpersonen) einerseits, gesetzgebender
und verwaltender Tätigkeit andererseits, ist nun offenbar nicht
mehr haltbar, wenn, infolge der Verstaatlichung der gesellschaft-
lichen Tätigkeit, die Privatpersonen zu Beamten, und die Rechts-
sätze zu Dienstvorschriften geworden sind.

Welche organisatorische Änderungen die Folge dieser Än-
derungen der Rechtsordnung (die ja zum Teil im Laufe des
19. und 20. Jahrhunderts schon eingetreten sind) sein müßten, ist
hier nicht auszuführen. Es genügt gezeigt zu haben, daß die Or-
ganisation des Staates im Zusammenhang steht mit der gesamten
staatlichen Rechtsordnung1.

v. Mohl a. a. O. 83; L. v. Stein, Der Begriff der Gesellschaft (Die soziale
Geschichte der französischen Revolution), 2. A., I (1855) S. XVII, XIX:
"Organismus des Güterlebens"; S. XXXI. Es bestätigt sich auch hier, daß
soziale Erkenntnis in Rechtsbegriffe gefaßt sein muß. Stammler, Wirt-
schaft und Recht Nr. 16, 20. Vgl. auch G. Rümelin, Studien und Aufsätze,
3. Folge, 248 ff., 259.
1 Worüber sich die sozialistische Lehre am wenigsten scheint Rechen-
schaft gegeben zu haben, indem sie glaubte, mit der Sozialisierung der
Produktion den "Staat" überflüssig machen zu können. Vgl. Kelsen,
Sozialismus und Staat, 2. A. (1923) So sicher jede menschliche Gesellschaft,
wenn sie Anspruch auf vernunftmäßiges Verhalten macht, einer Rechts-
ordnung bedarf, so sicher muß auch die Zuständigkeit, das Recht zu be-
stimmen, anzuwenden und zu erzwingen, in jeder Gesellschaft geordnet
sein; aber die Zuständigkeitsordnung wird folgerichtigerweise eine andere
sein müssen, in der Gesellschaft, die alle (oder auch nur die "wirtschaft-
lichen") gesellschaftlichen Funktionen verstaatlicht hat, und in derjenigen,
die sie rechtsgeschäftlicher Ordnung überläßt. Nicht von ungefähr hat das
Staatsrecht Sovietrußlands die Gewaltentrennung abgelehnt, das Stimm-
recht der "werktätigen", d. h. im sozialisierten Staat gerade der beamteten
Staatsangehörigen eingeführt und die Behörden stufenweise aufgebaut.
Vgl. Timaschew, Grundzüge des sovietrussischen Staatsrechts (1925) 2,
73, 79, 130, 143: "Die Sovietgesetze, sagte der Vorsitzende des höchsten
Gerichtshofes, sind bloß technische Instruktionen, aus welchen nur die all-
gemeinsten Bestimmungen wirklich bindend sind. Handelt es sich um
Prozeßnormen, um den Post- oder Telegraphendienst, oder schließlich um
Ackerbau oder Bienenzucht in den Sovietbetrieben -- die Verbindlichkeit
der Normen bleibt immer eine relative." Verbindlich müssen nun auch
diese Normen bleiben, wenn der Staat seiner Berufung treu bleiben will;
aber es sind nicht mehr Rechtssätze, die die Verwaltung im Verhältnis zu

II. Teil. Die staatliche Verfassung.
Amt unvereinbar war mit dem Mandat eines Volksvertreters. Diese
Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft (als der Gesamt-
heit der nichtbeamteten Privatpersonen) einerseits, gesetzgebender
und verwaltender Tätigkeit andererseits, ist nun offenbar nicht
mehr haltbar, wenn, infolge der Verstaatlichung der gesellschaft-
lichen Tätigkeit, die Privatpersonen zu Beamten, und die Rechts-
sätze zu Dienstvorschriften geworden sind.

Welche organisatorische Änderungen die Folge dieser Än-
derungen der Rechtsordnung (die ja zum Teil im Laufe des
19. und 20. Jahrhunderts schon eingetreten sind) sein müßten, ist
hier nicht auszuführen. Es genügt gezeigt zu haben, daß die Or-
ganisation des Staates im Zusammenhang steht mit der gesamten
staatlichen Rechtsordnung1.

v. Mohl a. a. O. 83; L. v. Stein, Der Begriff der Gesellschaft (Die soziale
Geschichte der französischen Revolution), 2. A., I (1855) S. XVII, XIX:
„Organismus des Güterlebens“; S. XXXI. Es bestätigt sich auch hier, daß
soziale Erkenntnis in Rechtsbegriffe gefaßt sein muß. Stammler, Wirt-
schaft und Recht Nr. 16, 20. Vgl. auch G. Rümelin, Studien und Aufsätze,
3. Folge, 248 ff., 259.
1 Worüber sich die sozialistische Lehre am wenigsten scheint Rechen-
schaft gegeben zu haben, indem sie glaubte, mit der Sozialisierung der
Produktion den „Staat“ überflüssig machen zu können. Vgl. Kelsen,
Sozialismus und Staat, 2. A. (1923) So sicher jede menschliche Gesellschaft,
wenn sie Anspruch auf vernunftmäßiges Verhalten macht, einer Rechts-
ordnung bedarf, so sicher muß auch die Zuständigkeit, das Recht zu be-
stimmen, anzuwenden und zu erzwingen, in jeder Gesellschaft geordnet
sein; aber die Zuständigkeitsordnung wird folgerichtigerweise eine andere
sein müssen, in der Gesellschaft, die alle (oder auch nur die „wirtschaft-
lichen“) gesellschaftlichen Funktionen verstaatlicht hat, und in derjenigen,
die sie rechtsgeschäftlicher Ordnung überläßt. Nicht von ungefähr hat das
Staatsrecht Sovietrußlands die Gewaltentrennung abgelehnt, das Stimm-
recht der „werktätigen“, d. h. im sozialisierten Staat gerade der beamteten
Staatsangehörigen eingeführt und die Behörden stufenweise aufgebaut.
Vgl. Timaschew, Grundzüge des sovietrussischen Staatsrechts (1925) 2,
73, 79, 130, 143: „Die Sovietgesetze, sagte der Vorsitzende des höchsten
Gerichtshofes, sind bloß technische Instruktionen, aus welchen nur die all-
gemeinsten Bestimmungen wirklich bindend sind. Handelt es sich um
Prozeßnormen, um den Post- oder Telegraphendienst, oder schließlich um
Ackerbau oder Bienenzucht in den Sovietbetrieben — die Verbindlichkeit
der Normen bleibt immer eine relative.“ Verbindlich müssen nun auch
diese Normen bleiben, wenn der Staat seiner Berufung treu bleiben will;
aber es sind nicht mehr Rechtssätze, die die Verwaltung im Verhältnis zu
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[140/0155] II. Teil. Die staatliche Verfassung. Amt unvereinbar war mit dem Mandat eines Volksvertreters. Diese Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft (als der Gesamt- heit der nichtbeamteten Privatpersonen) einerseits, gesetzgebender und verwaltender Tätigkeit andererseits, ist nun offenbar nicht mehr haltbar, wenn, infolge der Verstaatlichung der gesellschaft- lichen Tätigkeit, die Privatpersonen zu Beamten, und die Rechts- sätze zu Dienstvorschriften geworden sind. Welche organisatorische Änderungen die Folge dieser Än- derungen der Rechtsordnung (die ja zum Teil im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts schon eingetreten sind) sein müßten, ist hier nicht auszuführen. Es genügt gezeigt zu haben, daß die Or- ganisation des Staates im Zusammenhang steht mit der gesamten staatlichen Rechtsordnung 1. 3 1 Worüber sich die sozialistische Lehre am wenigsten scheint Rechen- schaft gegeben zu haben, indem sie glaubte, mit der Sozialisierung der Produktion den „Staat“ überflüssig machen zu können. Vgl. Kelsen, Sozialismus und Staat, 2. A. (1923) So sicher jede menschliche Gesellschaft, wenn sie Anspruch auf vernunftmäßiges Verhalten macht, einer Rechts- ordnung bedarf, so sicher muß auch die Zuständigkeit, das Recht zu be- stimmen, anzuwenden und zu erzwingen, in jeder Gesellschaft geordnet sein; aber die Zuständigkeitsordnung wird folgerichtigerweise eine andere sein müssen, in der Gesellschaft, die alle (oder auch nur die „wirtschaft- lichen“) gesellschaftlichen Funktionen verstaatlicht hat, und in derjenigen, die sie rechtsgeschäftlicher Ordnung überläßt. Nicht von ungefähr hat das Staatsrecht Sovietrußlands die Gewaltentrennung abgelehnt, das Stimm- recht der „werktätigen“, d. h. im sozialisierten Staat gerade der beamteten Staatsangehörigen eingeführt und die Behörden stufenweise aufgebaut. Vgl. Timaschew, Grundzüge des sovietrussischen Staatsrechts (1925) 2, 73, 79, 130, 143: „Die Sovietgesetze, sagte der Vorsitzende des höchsten Gerichtshofes, sind bloß technische Instruktionen, aus welchen nur die all- gemeinsten Bestimmungen wirklich bindend sind. Handelt es sich um Prozeßnormen, um den Post- oder Telegraphendienst, oder schließlich um Ackerbau oder Bienenzucht in den Sovietbetrieben — die Verbindlichkeit der Normen bleibt immer eine relative.“ Verbindlich müssen nun auch diese Normen bleiben, wenn der Staat seiner Berufung treu bleiben will; aber es sind nicht mehr Rechtssätze, die die Verwaltung im Verhältnis zu 3 v. Mohl a. a. O. 83; L. v. Stein, Der Begriff der Gesellschaft (Die soziale Geschichte der französischen Revolution), 2. A., I (1855) S. XVII, XIX: „Organismus des Güterlebens“; S. XXXI. Es bestätigt sich auch hier, daß soziale Erkenntnis in Rechtsbegriffe gefaßt sein muß. Stammler, Wirt- schaft und Recht Nr. 16, 20. Vgl. auch G. Rümelin, Studien und Aufsätze, 3. Folge, 248 ff., 259.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/155>, abgerufen am 29.03.2024.