Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Verfassungsrecht.
Materielles Verfassungsrecht sind diejenigen Rechtssätze, welche
logischerweise nicht durch bloßes Gesetz aufgestellt werden
können; formelles diejenigen, die in jene übergesetzliche Form ge-
kleidet worden sind1.

Ob aber alle Regeln, welche der verfassungsrechtlichen Form
bedürften, auch überall in diese Form gekleidet worden sind, ist
eine andere Frage. Wir behaupten das keineswegs; die Behauptung
wäre offensichtlich falsch; denn mehrere Staaten, vorab Eng-
land, kennen tatsächlich keine andere Form der Rechtssetzung
als das Gesetz. Wir behaupten nur, daß, wenn diese Staaten sich
der Form des Gesetzes bedienen, um die Zuständigkeit zur Ge-
setzgebung zu ordnen, sie sich in logische Widersprüche ver-
wickeln. Denn wenn man annimmt, das englische Parlament sei
zuständig, seine eigene Gesetzgebungskompetenz zu ändern,
z. B. durch die Einschränkung der Mitwirkung des Oberhauses,
so muß man auch annehmen, diese Kompetenz sei in seinem Willen
begründet, was ein Widerspruch wäre2.

1 Ob man, wie bei Gesetzen, materielles Verfassungsrecht nur das-
jenige nennen wolle, das in Verfassungsform enthalten sein sollte, aber
nicht diese Form erhalten hat, und formelles Verfassungsrecht dasjenige,
welches in diese Form gekleidet worden ist, ohne ihr zu bedürfen, ist eine
rein terminologische Frage; die Hauptsache ist die Erfassung des Gegen-
satzes von Form und Inhalt, der hier praktisch wird. Die Unterscheidung
wird abgelehnt u. a. von Carre de Malberg II 571, sowie im allgemeinen
von der englischen Doktrin: Dicey, Introduction a l'etude du droit con-
stitutionnel (1902) 37.
2 Vgl. de Tocqueville, La democratie en Amerique II 398; I 120. --
Wenn eine Behörde zur Gesetzgebung zuständig sein soll, kann es nur kraft
einer Rechtsnorm sein, die sie verpflichtet; Zuständigkeiten beruhen stets
auf objektivem Recht und begründen nicht subjektive Rechte, sondern
objektiv-rechtliche Obliegenheiten. Eine Privatperson kann eine andere
ermächtigen, ein Recht auszuüben oder auch es auf einen Dritten zu über-
tragen. Aber die englische Verfassung kann nicht die Mitglieder des Par-
lamentes ermächtigt haben, ihre Zuständigkeit zur Gesetzgebung einer
anderen konstitutionellen Behörde, z. B. einer Kammer, einer ersten
Kammer oder dem Kabinett zu übertragen. Sonst hat die Verfassung
selbst keine Zuständigkeitsordnung begründet, weil sie darüber keine Norm
aufgestellt, sondern es der Willkür zufälliger Mitglieder des dermaligen
Parlamentes überlassen hat, zu bestimmen, wer Gesetze für England zu
machen hat. Wenn der Satz, daß das englische Parlament alles kann, ein
Rechtssatz sein soll, muß er auch festnageln, was dieses "Parlament" ist.

Das Verfassungsrecht.
Materielles Verfassungsrecht sind diejenigen Rechtssätze, welche
logischerweise nicht durch bloßes Gesetz aufgestellt werden
können; formelles diejenigen, die in jene übergesetzliche Form ge-
kleidet worden sind1.

Ob aber alle Regeln, welche der verfassungsrechtlichen Form
bedürften, auch überall in diese Form gekleidet worden sind, ist
eine andere Frage. Wir behaupten das keineswegs; die Behauptung
wäre offensichtlich falsch; denn mehrere Staaten, vorab Eng-
land, kennen tatsächlich keine andere Form der Rechtssetzung
als das Gesetz. Wir behaupten nur, daß, wenn diese Staaten sich
der Form des Gesetzes bedienen, um die Zuständigkeit zur Ge-
setzgebung zu ordnen, sie sich in logische Widersprüche ver-
wickeln. Denn wenn man annimmt, das englische Parlament sei
zuständig, seine eigene Gesetzgebungskompetenz zu ändern,
z. B. durch die Einschränkung der Mitwirkung des Oberhauses,
so muß man auch annehmen, diese Kompetenz sei in seinem Willen
begründet, was ein Widerspruch wäre2.

1 Ob man, wie bei Gesetzen, materielles Verfassungsrecht nur das-
jenige nennen wolle, das in Verfassungsform enthalten sein sollte, aber
nicht diese Form erhalten hat, und formelles Verfassungsrecht dasjenige,
welches in diese Form gekleidet worden ist, ohne ihr zu bedürfen, ist eine
rein terminologische Frage; die Hauptsache ist die Erfassung des Gegen-
satzes von Form und Inhalt, der hier praktisch wird. Die Unterscheidung
wird abgelehnt u. a. von Carré de Malberg II 571, sowie im allgemeinen
von der englischen Doktrin: Dicey, Introduction à l'étude du droit con-
stitutionnel (1902) 37.
2 Vgl. de Tocqueville, La démocratie en Amérique II 398; I 120. —
Wenn eine Behörde zur Gesetzgebung zuständig sein soll, kann es nur kraft
einer Rechtsnorm sein, die sie verpflichtet; Zuständigkeiten beruhen stets
auf objektivem Recht und begründen nicht subjektive Rechte, sondern
objektiv-rechtliche Obliegenheiten. Eine Privatperson kann eine andere
ermächtigen, ein Recht auszuüben oder auch es auf einen Dritten zu über-
tragen. Aber die englische Verfassung kann nicht die Mitglieder des Par-
lamentes ermächtigt haben, ihre Zuständigkeit zur Gesetzgebung einer
anderen konstitutionellen Behörde, z. B. einer Kammer, einer ersten
Kammer oder dem Kabinett zu übertragen. Sonst hat die Verfassung
selbst keine Zuständigkeitsordnung begründet, weil sie darüber keine Norm
aufgestellt, sondern es der Willkür zufälliger Mitglieder des dermaligen
Parlamentes überlassen hat, zu bestimmen, wer Gesetze für England zu
machen hat. Wenn der Satz, daß das englische Parlament alles kann, ein
Rechtssatz sein soll, muß er auch festnageln, was dieses „Parlament“ ist.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0226" n="211"/><fw place="top" type="header">Das Verfassungsrecht.</fw><lb/>
Materielles Verfassungsrecht sind diejenigen Rechtssätze, welche<lb/>
logischerweise nicht durch bloßes Gesetz aufgestellt werden<lb/>
können; formelles diejenigen, die in jene übergesetzliche Form ge-<lb/>
kleidet worden sind<note place="foot" n="1">Ob man, wie bei Gesetzen, materielles Verfassungsrecht nur das-<lb/>
jenige nennen wolle, das in Verfassungsform enthalten sein sollte, aber<lb/><hi rendition="#g">nicht</hi> diese Form erhalten hat, und formelles Verfassungsrecht dasjenige,<lb/>
welches in diese Form gekleidet worden ist, <hi rendition="#g">ohne</hi> ihr zu bedürfen, ist eine<lb/>
rein terminologische Frage; die Hauptsache ist die Erfassung des Gegen-<lb/>
satzes von Form und Inhalt, der hier praktisch wird. Die Unterscheidung<lb/>
wird abgelehnt u. a. von <hi rendition="#g">Carré de Malberg</hi> II 571, sowie im allgemeinen<lb/>
von der englischen Doktrin: <hi rendition="#g">Dicey,</hi> Introduction à l'étude du droit con-<lb/>
stitutionnel (1902) 37.</note>.</p><lb/>
              <p>Ob aber alle Regeln, welche der verfassungsrechtlichen Form<lb/>
bedürften, auch überall in diese Form gekleidet worden sind, ist<lb/>
eine andere Frage. Wir behaupten das keineswegs; die Behauptung<lb/>
wäre offensichtlich falsch; denn mehrere Staaten, vorab Eng-<lb/>
land, kennen tatsächlich keine andere Form der Rechtssetzung<lb/>
als das Gesetz. Wir behaupten nur, daß, wenn diese Staaten sich<lb/>
der Form des Gesetzes bedienen, um die Zuständigkeit zur Ge-<lb/>
setzgebung zu ordnen, sie sich in logische Widersprüche ver-<lb/>
wickeln. Denn wenn man annimmt, das englische Parlament sei<lb/>
zuständig, seine eigene Gesetzgebungskompetenz zu ändern,<lb/>
z. B. durch die Einschränkung der Mitwirkung des Oberhauses,<lb/>
so muß man auch annehmen, diese Kompetenz sei in seinem Willen<lb/>
begründet, was ein Widerspruch wäre<note xml:id="seg2pn_32_1" next="#seg2pn_32_2" place="foot" n="2">Vgl. <hi rendition="#g">de Tocqueville,</hi> La démocratie en Amérique II 398; I 120. &#x2014;<lb/>
Wenn eine Behörde zur Gesetzgebung zuständig sein soll, kann es nur kraft<lb/>
einer Rechtsnorm sein, die sie verpflichtet; Zuständigkeiten beruhen stets<lb/>
auf objektivem Recht und begründen nicht subjektive Rechte, sondern<lb/>
objektiv-rechtliche Obliegenheiten. Eine Privatperson kann eine andere<lb/>
ermächtigen, ein Recht auszuüben oder auch es auf einen Dritten zu über-<lb/>
tragen. Aber die englische Verfassung kann nicht die Mitglieder des Par-<lb/>
lamentes ermächtigt haben, ihre Zuständigkeit zur Gesetzgebung einer<lb/>
anderen konstitutionellen Behörde, z. B. <hi rendition="#g">einer</hi> Kammer, einer ersten<lb/>
Kammer oder dem Kabinett zu übertragen. Sonst hat die Verfassung<lb/>
selbst keine Zuständigkeitsordnung begründet, weil sie darüber keine Norm<lb/>
aufgestellt, sondern es der Willkür zufälliger Mitglieder des dermaligen<lb/>
Parlamentes überlassen hat, zu bestimmen, wer Gesetze für England zu<lb/>
machen hat. Wenn der Satz, daß das englische Parlament alles kann, ein<lb/>
Rechtssatz sein soll, muß er auch festnageln, was dieses &#x201E;Parlament&#x201C; ist.</note>.</p>
            </div><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[211/0226] Das Verfassungsrecht. Materielles Verfassungsrecht sind diejenigen Rechtssätze, welche logischerweise nicht durch bloßes Gesetz aufgestellt werden können; formelles diejenigen, die in jene übergesetzliche Form ge- kleidet worden sind 1. Ob aber alle Regeln, welche der verfassungsrechtlichen Form bedürften, auch überall in diese Form gekleidet worden sind, ist eine andere Frage. Wir behaupten das keineswegs; die Behauptung wäre offensichtlich falsch; denn mehrere Staaten, vorab Eng- land, kennen tatsächlich keine andere Form der Rechtssetzung als das Gesetz. Wir behaupten nur, daß, wenn diese Staaten sich der Form des Gesetzes bedienen, um die Zuständigkeit zur Ge- setzgebung zu ordnen, sie sich in logische Widersprüche ver- wickeln. Denn wenn man annimmt, das englische Parlament sei zuständig, seine eigene Gesetzgebungskompetenz zu ändern, z. B. durch die Einschränkung der Mitwirkung des Oberhauses, so muß man auch annehmen, diese Kompetenz sei in seinem Willen begründet, was ein Widerspruch wäre 2. 1 Ob man, wie bei Gesetzen, materielles Verfassungsrecht nur das- jenige nennen wolle, das in Verfassungsform enthalten sein sollte, aber nicht diese Form erhalten hat, und formelles Verfassungsrecht dasjenige, welches in diese Form gekleidet worden ist, ohne ihr zu bedürfen, ist eine rein terminologische Frage; die Hauptsache ist die Erfassung des Gegen- satzes von Form und Inhalt, der hier praktisch wird. Die Unterscheidung wird abgelehnt u. a. von Carré de Malberg II 571, sowie im allgemeinen von der englischen Doktrin: Dicey, Introduction à l'étude du droit con- stitutionnel (1902) 37. 2 Vgl. de Tocqueville, La démocratie en Amérique II 398; I 120. — Wenn eine Behörde zur Gesetzgebung zuständig sein soll, kann es nur kraft einer Rechtsnorm sein, die sie verpflichtet; Zuständigkeiten beruhen stets auf objektivem Recht und begründen nicht subjektive Rechte, sondern objektiv-rechtliche Obliegenheiten. Eine Privatperson kann eine andere ermächtigen, ein Recht auszuüben oder auch es auf einen Dritten zu über- tragen. Aber die englische Verfassung kann nicht die Mitglieder des Par- lamentes ermächtigt haben, ihre Zuständigkeit zur Gesetzgebung einer anderen konstitutionellen Behörde, z. B. einer Kammer, einer ersten Kammer oder dem Kabinett zu übertragen. Sonst hat die Verfassung selbst keine Zuständigkeitsordnung begründet, weil sie darüber keine Norm aufgestellt, sondern es der Willkür zufälliger Mitglieder des dermaligen Parlamentes überlassen hat, zu bestimmen, wer Gesetze für England zu machen hat. Wenn der Satz, daß das englische Parlament alles kann, ein Rechtssatz sein soll, muß er auch festnageln, was dieses „Parlament“ ist.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/226
Zitationshilfe: Burckhardt, Walther: Die Organisation der Rechtsgemeinschaft. Basel, 1927, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_rechtsgemeinschaft_1927/226>, abgerufen am 20.04.2024.