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Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].

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hängen wir; nicht aber an seiner Tonika und Dominante,
seinen Durchführungen und Kodas.

Solche Befreiungslust erfüllte einen Beethoven, den
romantischen Revolutionsmenschen, daß er einen kleinen
Schritt in der Zurückführung der Musik zu ihrer höheren
Natur aufstieg; einen kleinen Schritt in der großen Auf-
gabe, einen großen Schritt in seinem eigenen Weg. Die
ganz absolute Musik hat er nicht erreicht, aber in einzelnen
Augenblicken geahnt, wie in der Introduktion zur Fuge der
Hammerklavier-Sonate. Überhaupt kamen die Tondichter
in den vorbereitenden und vermittelnden Sätzen (Vorspielen
und Übergängen) der wahren Natur der Musik am nächsten,
wo sie glaubten, die symmetrischen Verhältnisse außer acht
lassen zu dürfen und selbst unbewußt frei aufzuatmen schienen.
Selbst einen so viel kleineren Schumann ergreift an solchen
Stellen etwas von dem Unbegrenzten dieser Pan-Kunst
- man denke an die Überleitung zum letzten Satze der D-
Moll-Sinfonie -, und Gleiches kann man von Brahms
und der Introduktion zum Finale seiner ersten Sinfonie be-
haupten.

Aber sobald sie die Schwelle des Hauptsatzes beschreiten,
wird ihre Haltung steif und konventionell wie die eines
Mannes, der in ein Amtszimmer tritt.

Neben Beethoven ist Bach der "Ur-Musik" am ver-
wandtesten. Seine Orgelfantasien (und nicht die Fugen)
haben unzweifelhaft einen starken Zug von Landschaftlichem
(dem Architektonisch-Entgegenstehenden), von Eingebungen,
die man "Mensch und Natur" überschreiben möchte; 1 bei

1 Seine Passions-Rezitative haben das "Menschlich-Redende", nicht
"Richtig-Deklamierte".

hängen wir; nicht aber an seiner Tonika und Dominante,
seinen Durchführungen und Kodas.

Solche Befreiungslust erfüllte einen Beethoven, den
romantischen Revolutionsmenschen, daß er einen kleinen
Schritt in der Zurückführung der Musik zu ihrer höheren
Natur aufstieg; einen kleinen Schritt in der großen Auf-
gabe, einen großen Schritt in seinem eigenen Weg. Die
ganz absolute Musik hat er nicht erreicht, aber in einzelnen
Augenblicken geahnt, wie in der Introduktion zur Fuge der
Hammerklavier-Sonate. Überhaupt kamen die Tondichter
in den vorbereitenden und vermittelnden Sätzen (Vorspielen
und Übergängen) der wahren Natur der Musik am nächsten,
wo sie glaubten, die symmetrischen Verhältnisse außer acht
lassen zu dürfen und selbst unbewußt frei aufzuatmen schienen.
Selbst einen so viel kleineren Schumann ergreift an solchen
Stellen etwas von dem Unbegrenzten dieser Pan-Kunst
– man denke an die Überleitung zum letzten Satze der D-
Moll-Sinfonie –, und Gleiches kann man von Brahms
und der Introduktion zum Finale seiner ersten Sinfonie be-
haupten.

Aber sobald sie die Schwelle des Hauptsatzes beschreiten,
wird ihre Haltung steif und konventionell wie die eines
Mannes, der in ein Amtszimmer tritt.

Neben Beethoven ist Bach der „Ur-Musik“ am ver-
wandtesten. Seine Orgelfantasien (und nicht die Fugen)
haben unzweifelhaft einen starken Zug von Landschaftlichem
(dem Architektonisch-Entgegenstehenden), von Eingebungen,
die man „Mensch und Natur“ überschreiben möchte; 1 bei

1 Seine Passions-Rezitative haben das „Menschlich-Redende“, nicht
„Richtig-Deklamierte“.
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[11/0011] hängen wir; nicht aber an seiner Tonika und Dominante, seinen Durchführungen und Kodas. Solche Befreiungslust erfüllte einen Beethoven, den romantischen Revolutionsmenschen, daß er einen kleinen Schritt in der Zurückführung der Musik zu ihrer höheren Natur aufstieg; einen kleinen Schritt in der großen Auf- gabe, einen großen Schritt in seinem eigenen Weg. Die ganz absolute Musik hat er nicht erreicht, aber in einzelnen Augenblicken geahnt, wie in der Introduktion zur Fuge der Hammerklavier-Sonate. Überhaupt kamen die Tondichter in den vorbereitenden und vermittelnden Sätzen (Vorspielen und Übergängen) der wahren Natur der Musik am nächsten, wo sie glaubten, die symmetrischen Verhältnisse außer acht lassen zu dürfen und selbst unbewußt frei aufzuatmen schienen. Selbst einen so viel kleineren Schumann ergreift an solchen Stellen etwas von dem Unbegrenzten dieser Pan-Kunst – man denke an die Überleitung zum letzten Satze der D- Moll-Sinfonie –, und Gleiches kann man von Brahms und der Introduktion zum Finale seiner ersten Sinfonie be- haupten. Aber sobald sie die Schwelle des Hauptsatzes beschreiten, wird ihre Haltung steif und konventionell wie die eines Mannes, der in ein Amtszimmer tritt. Neben Beethoven ist Bach der „Ur-Musik“ am ver- wandtesten. Seine Orgelfantasien (und nicht die Fugen) haben unzweifelhaft einen starken Zug von Landschaftlichem (dem Architektonisch-Entgegenstehenden), von Eingebungen, die man „Mensch und Natur“ überschreiben möchte; 1 bei 1 Seine Passions-Rezitative haben das „Menschlich-Redende“, nicht „Richtig-Deklamierte“.

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Ferruccio Busoni – Briefe und Schriften, herausgegeben von Christian Schaper und Ullrich Scheideler, Humboldt-Universität zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2019-05-15T13:49:52Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Schaper, Maximilian Furthmüller, Theresa Menard, Vanda Hehr, Clemens Gubsch, Claudio Fuchs, Jupp Wegner, David Mews, Ullrich Scheideler: Bearbeitung der digitalen Edition. (2019-05-27T13:49:52Z)
Benjamin Fiechter: Konvertierung ins DTA-Basisformat (2019-05-27T13:49:52Z)

Weitere Informationen:

Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei.

Die Transkription erfolgte nach den unter https://www.busoni-nachlass.org/de/Projekt/E1000003.html, http://www.deutschestextarchiv.de/doku/basisformat/ formulierten Richtlinien.

Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




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Zitationshilfe: Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/11>, abgerufen am 28.03.2024.