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Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916].

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Wiederum gibt es "sichtbare" Seelenzustände auf der
Bühne, um die sich die Musik nicht zu kümmern braucht.
Nehmen wir die theatralische Situation, 1 daß eine lustige
nächtliche Gesellschaft sich singend entfernt und dem Auge
entschwindet, indessen im Vordergrund ein schweigsamer, er-
bitterter Zweikampf ausgefochten wird. Hier wird die Mu-
sik die dem Auge nicht mehr erreichbare lustige Gesellschaft
durch den fortzusetzenden Gesang gegenwärtig halten müssen:
was die beiden vorderen treiben und dabei empfinden, ist
ohne jede weitere Erläuterung erkennbar, und die Musik
darf, dramatisch gesprochen, nicht sich daran beteiligen, das
tragische Schweigen nicht brechen.

Für bedingt gerechtfertigt halte ich den Modus der alten
Oper, welche die durch eine dramatisch-bewegte Szene ge-
wonnene Stimmung in einem geschlossenen Stücke zusammen-
faßte und ausklingen ließ (Arie). - Wort und Gesten
vermittelten den dramatischen Gang der Handlung, von der
Musik mehr oder weniger dürftig rezitativisch gefolgt; an
dem Ruhepunkt angelangt, nahm die Musik den Hauptsitz
wieder ein. Das ist weniger äußerlich, als man es jetzt
glauben machen will. Wieder war es aber die versteifte
Form der "Arie" selbst, die zu der Unwahrheit des Aus-
drucks und zum Verfall führte.

Immer wird das gesungene Wort auf der Bühne eine
Konvention bleiben und ein Hindernis für alle wahrhaftige
Wirkung: aus diesem Konflikt mit Anstand hervorzugehen,
wird eine Handlung, in welcher die Personen singend agieren,
von Anfang an auf das Unglaubhafte, Unwahre, Unwahr-
scheinliche gestellt sein müssen, auf daß eine Unmöglichkeit

1 Aus Offenbachs "Les contes d'Hoffmann".

Wiederum gibt es „sichtbare“ Seelenzustände auf der
Bühne, um die sich die Musik nicht zu kümmern braucht.
Nehmen wir die theatralische Situation, 1 daß eine lustige
nächtliche Gesellschaft sich singend entfernt und dem Auge
entschwindet, indessen im Vordergrund ein schweigsamer, er-
bitterter Zweikampf ausgefochten wird. Hier wird die Mu-
sik die dem Auge nicht mehr erreichbare lustige Gesellschaft
durch den fortzusetzenden Gesang gegenwärtig halten müssen:
was die beiden vorderen treiben und dabei empfinden, ist
ohne jede weitere Erläuterung erkennbar, und die Musik
darf, dramatisch gesprochen, nicht sich daran beteiligen, das
tragische Schweigen nicht brechen.

Für bedingt gerechtfertigt halte ich den Modus der alten
Oper, welche die durch eine dramatisch-bewegte Szene ge-
wonnene Stimmung in einem geschlossenen Stücke zusammen-
faßte und ausklingen ließ (Arie). – Wort und Gesten
vermittelten den dramatischen Gang der Handlung, von der
Musik mehr oder weniger dürftig rezitativisch gefolgt; an
dem Ruhepunkt angelangt, nahm die Musik den Hauptsitz
wieder ein. Das ist weniger äußerlich, als man es jetzt
glauben machen will. Wieder war es aber die versteifte
Form der „Arie“ selbst, die zu der Unwahrheit des Aus-
drucks und zum Verfall führte.

Immer wird das gesungene Wort auf der Bühne eine
Konvention bleiben und ein Hindernis für alle wahrhaftige
Wirkung: aus diesem Konflikt mit Anstand hervorzugehen,
wird eine Handlung, in welcher die Personen singend agieren,
von Anfang an auf das Unglaubhafte, Unwahre, Unwahr-
scheinliche gestellt sein müssen, auf daß eine Unmöglichkeit

1 Aus Offenbachs „Les contes d’Hoffmann“.
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[17/0017] Wiederum gibt es „sichtbare“ Seelenzustände auf der Bühne, um die sich die Musik nicht zu kümmern braucht. Nehmen wir die theatralische Situation, 1 daß eine lustige nächtliche Gesellschaft sich singend entfernt und dem Auge entschwindet, indessen im Vordergrund ein schweigsamer, er- bitterter Zweikampf ausgefochten wird. Hier wird die Mu- sik die dem Auge nicht mehr erreichbare lustige Gesellschaft durch den fortzusetzenden Gesang gegenwärtig halten müssen: was die beiden vorderen treiben und dabei empfinden, ist ohne jede weitere Erläuterung erkennbar, und die Musik darf, dramatisch gesprochen, nicht sich daran beteiligen, das tragische Schweigen nicht brechen. Für bedingt gerechtfertigt halte ich den Modus der alten Oper, welche die durch eine dramatisch-bewegte Szene ge- wonnene Stimmung in einem geschlossenen Stücke zusammen- faßte und ausklingen ließ (Arie). – Wort und Gesten vermittelten den dramatischen Gang der Handlung, von der Musik mehr oder weniger dürftig rezitativisch gefolgt; an dem Ruhepunkt angelangt, nahm die Musik den Hauptsitz wieder ein. Das ist weniger äußerlich, als man es jetzt glauben machen will. Wieder war es aber die versteifte Form der „Arie“ selbst, die zu der Unwahrheit des Aus- drucks und zum Verfall führte. Immer wird das gesungene Wort auf der Bühne eine Konvention bleiben und ein Hindernis für alle wahrhaftige Wirkung: aus diesem Konflikt mit Anstand hervorzugehen, wird eine Handlung, in welcher die Personen singend agieren, von Anfang an auf das Unglaubhafte, Unwahre, Unwahr- scheinliche gestellt sein müssen, auf daß eine Unmöglichkeit 1 Aus Offenbachs „Les contes d’Hoffmann“.

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Ferruccio Busoni – Briefe und Schriften, herausgegeben von Christian Schaper und Ullrich Scheideler, Humboldt-Universität zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2019-05-15T13:49:52Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Christian Schaper, Maximilian Furthmüller, Theresa Menard, Vanda Hehr, Clemens Gubsch, Claudio Fuchs, Jupp Wegner, David Mews, Ullrich Scheideler: Bearbeitung der digitalen Edition. (2019-05-27T13:49:52Z)
Benjamin Fiechter: Konvertierung ins DTA-Basisformat (2019-05-27T13:49:52Z)

Weitere Informationen:

Textgrundlage von 1906 von Busoni hauptsächlich 1914 überarbeitet. Gedruckt 1916 in Altenburg; erschienen im Insel-Verlag zu Leipzig als Nr. 202 der Insel-Bücherei.

Die Transkription erfolgte nach den unter https://www.busoni-nachlass.org/de/Projekt/E1000003.html, http://www.deutschestextarchiv.de/doku/basisformat/ formulierten Richtlinien.

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Zitationshilfe: Busoni, Ferruccio: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. 2. Aufl. Leipzig, [1916], S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/busoni_entwurf_1916/17>, abgerufen am 19.04.2024.