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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Hellenische Kunst und Philosophie.
angenommen, Gott sei in Menschengestalt erschienen? Ist der Jahve
der Israeliten nicht ein Prototyp des edlen und dabei doch zank- und
rachsüchtigen Juden? Es wäre wohl doch nicht ratsam, die aristote-
lische "Wesenheit ohne Grösse, die das Gedachte denkt" der künst-
lerischen Anschauung zu empfehlen. Dagegen erkühnt sich die
poetische Religion der Griechen nicht über "Unerschaffenes" Auskunft
zu geben und Zukünftiges "vernunftgemäss zu erklären". Sie giebt
ein Bild der Welt wie in einem Hohlspiegel und glaubt dadurch den
Menschengeist zu erquicken und zu läutern; weiter nichts. Lehrs
führt in dem genannten Buche aus, wie der Begriff der Teleologie
durch die Philosophen, von Sokrates bis Cicero, eingeführt wurde,
dagegen in hellenischer Poesie keinen Eingang gefunden habe. "Der
Begriff der schönen Ordnung", sagt er (S. 117), "der Harmonie, des
Kosmos, der tief die griechische Religion durchzieht, ist ein viel
höherer als jener der Teleologie, der in jeder Beziehung etwas Kümmer-
liches hat". -- Um die Sache uns recht nahe zu bringen, frage ich:
wer ist der Anthropomorphist, Homer oder Byron? Homer, an dessen
persönlichem Dasein man hat zweifeln können, oder Byron, der so
mächtig in die Saiten griff und die Poesie unseres Jahrhunderts auf
die Tonart stimmte, in welcher Alpen und Ocean, Vergangenheit
und Gegenwart des Menschengeschlechtes nur dienen, das eigene Ich
wiederzuspiegeln und einzurahmen? Es dürfte vielleicht für jeden
modernen Menschen unmöglich sein, sich menschlichen Handlungen
gegenüber, und von der Ahnung einer Weltordnung durchdrungen,
so wenig |anthropomorphistisch, so sehr "objektiv" zu verhalten wie
Homer.

In ähnlicher Weise hätte eine Anzahl unserer Urteile eine gründ-
liche Revision zu erfahren, soll endlich Licht in die grosse Masse des
reichen, überreichen, durcheinander gewürfelten hellenischen Erbteils
eindringen und uns eine bewusste Aneignung und ein ebenso bewusstes
Verwerfen und gründliches Abschütteln ermöglichen.

Vielleicht habe ich mit diesen letzten Ausführungen ein wenigSchlusswort.
in das Bereich eines späteren Teiles dieses Buches eingegriffen. Ich
wusste mir nicht anders zu helfen; denn, spielte die hellenische Erb-
schaft eine grosse Rolle in unserem Jahrhundert, wie in allen voran-
gegangenen, so herrschte doch in Bezug auf sie eine heillose Konfusion
und ein hochgradiges "Unbewusstsein", und diese Geistesverfassung
der Erben musste im Interesse alles Folgenden ebenso klar hervor-

Hellenische Kunst und Philosophie.
angenommen, Gott sei in Menschengestalt erschienen? Ist der Jahve
der Israeliten nicht ein Prototyp des edlen und dabei doch zank- und
rachsüchtigen Juden? Es wäre wohl doch nicht ratsam, die aristote-
lische »Wesenheit ohne Grösse, die das Gedachte denkt« der künst-
lerischen Anschauung zu empfehlen. Dagegen erkühnt sich die
poetische Religion der Griechen nicht über »Unerschaffenes« Auskunft
zu geben und Zukünftiges »vernunftgemäss zu erklären«. Sie giebt
ein Bild der Welt wie in einem Hohlspiegel und glaubt dadurch den
Menschengeist zu erquicken und zu läutern; weiter nichts. Lehrs
führt in dem genannten Buche aus, wie der Begriff der Teleologie
durch die Philosophen, von Sokrates bis Cicero, eingeführt wurde,
dagegen in hellenischer Poesie keinen Eingang gefunden habe. »Der
Begriff der schönen Ordnung«, sagt er (S. 117), »der Harmonie, des
Kosmos, der tief die griechische Religion durchzieht, ist ein viel
höherer als jener der Teleologie, der in jeder Beziehung etwas Kümmer-
liches hat«. — Um die Sache uns recht nahe zu bringen, frage ich:
wer ist der Anthropomorphist, Homer oder Byron? Homer, an dessen
persönlichem Dasein man hat zweifeln können, oder Byron, der so
mächtig in die Saiten griff und die Poesie unseres Jahrhunderts auf
die Tonart stimmte, in welcher Alpen und Ocean, Vergangenheit
und Gegenwart des Menschengeschlechtes nur dienen, das eigene Ich
wiederzuspiegeln und einzurahmen? Es dürfte vielleicht für jeden
modernen Menschen unmöglich sein, sich menschlichen Handlungen
gegenüber, und von der Ahnung einer Weltordnung durchdrungen,
so wenig |anthropomorphistisch, so sehr »objektiv« zu verhalten wie
Homer.

In ähnlicher Weise hätte eine Anzahl unserer Urteile eine gründ-
liche Revision zu erfahren, soll endlich Licht in die grosse Masse des
reichen, überreichen, durcheinander gewürfelten hellenischen Erbteils
eindringen und uns eine bewusste Aneignung und ein ebenso bewusstes
Verwerfen und gründliches Abschütteln ermöglichen.

Vielleicht habe ich mit diesen letzten Ausführungen ein wenigSchlusswort.
in das Bereich eines späteren Teiles dieses Buches eingegriffen. Ich
wusste mir nicht anders zu helfen; denn, spielte die hellenische Erb-
schaft eine grosse Rolle in unserem Jahrhundert, wie in allen voran-
gegangenen, so herrschte doch in Bezug auf sie eine heillose Konfusion
und ein hochgradiges »Unbewusstsein«, und diese Geistesverfassung
der Erben musste im Interesse alles Folgenden ebenso klar hervor-

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[117/0140] Hellenische Kunst und Philosophie. angenommen, Gott sei in Menschengestalt erschienen? Ist der Jahve der Israeliten nicht ein Prototyp des edlen und dabei doch zank- und rachsüchtigen Juden? Es wäre wohl doch nicht ratsam, die aristote- lische »Wesenheit ohne Grösse, die das Gedachte denkt« der künst- lerischen Anschauung zu empfehlen. Dagegen erkühnt sich die poetische Religion der Griechen nicht über »Unerschaffenes« Auskunft zu geben und Zukünftiges »vernunftgemäss zu erklären«. Sie giebt ein Bild der Welt wie in einem Hohlspiegel und glaubt dadurch den Menschengeist zu erquicken und zu läutern; weiter nichts. Lehrs führt in dem genannten Buche aus, wie der Begriff der Teleologie durch die Philosophen, von Sokrates bis Cicero, eingeführt wurde, dagegen in hellenischer Poesie keinen Eingang gefunden habe. »Der Begriff der schönen Ordnung«, sagt er (S. 117), »der Harmonie, des Kosmos, der tief die griechische Religion durchzieht, ist ein viel höherer als jener der Teleologie, der in jeder Beziehung etwas Kümmer- liches hat«. — Um die Sache uns recht nahe zu bringen, frage ich: wer ist der Anthropomorphist, Homer oder Byron? Homer, an dessen persönlichem Dasein man hat zweifeln können, oder Byron, der so mächtig in die Saiten griff und die Poesie unseres Jahrhunderts auf die Tonart stimmte, in welcher Alpen und Ocean, Vergangenheit und Gegenwart des Menschengeschlechtes nur dienen, das eigene Ich wiederzuspiegeln und einzurahmen? Es dürfte vielleicht für jeden modernen Menschen unmöglich sein, sich menschlichen Handlungen gegenüber, und von der Ahnung einer Weltordnung durchdrungen, so wenig |anthropomorphistisch, so sehr »objektiv« zu verhalten wie Homer. In ähnlicher Weise hätte eine Anzahl unserer Urteile eine gründ- liche Revision zu erfahren, soll endlich Licht in die grosse Masse des reichen, überreichen, durcheinander gewürfelten hellenischen Erbteils eindringen und uns eine bewusste Aneignung und ein ebenso bewusstes Verwerfen und gründliches Abschütteln ermöglichen. Vielleicht habe ich mit diesen letzten Ausführungen ein wenig in das Bereich eines späteren Teiles dieses Buches eingegriffen. Ich wusste mir nicht anders zu helfen; denn, spielte die hellenische Erb- schaft eine grosse Rolle in unserem Jahrhundert, wie in allen voran- gegangenen, so herrschte doch in Bezug auf sie eine heillose Konfusion und ein hochgradiges »Unbewusstsein«, und diese Geistesverfassung der Erben musste im Interesse alles Folgenden ebenso klar hervor- Schlusswort.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/140>, abgerufen am 28.03.2024.