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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Allgemeine Einleitung.
neue Welt und eine neue Civilisation, grundverschieden von der
helleno-römischen, der turanischen, der ägyptischen, der chinesischen
und allen andern früheren oder zeitgenössischen. -- Als den Anfang
dieser neuen Civilisation, d. h. als den Augenblick, wo sie begann,
der Welt ihren besonderen Stempel aufzudrücken, können wir,
glaube ich, das 13. Jahrhundert bestimmen. Zwar hatten Einzelne
schon weit früher germanische Eigenart in kultureller Thätigkeit be-
währt -- wie König Alfred, Karl der Grosse, Scotus Erigena u. s. w. --
doch nicht Einzelne, sondern Gesamtheiten machen Geschichte; diese
Einzelnen waren nur Vorbereiter gewesen; um eine civilisatorische
Gewalt zu werden, musste der Germane in breiten Schichten zur Be-
thätigung seines Eigenwillens im Gegensatz zu dem ihm aufgedrungenen
fremden Willen erwachen und erstarken. Das geschah nicht auf ein-
mal, es geschah auch nicht auf allen Lebensgebieten zugleich; insofern
ist die Wahl des Jahres 1200 als Grenze eine willkürliche, doch glaube
ich sie in folgendem rechtfertigen zu können und habe alles gewonnen,
wenn es mir hierdurch gelingt, jene beiden Undinge -- die Be-
griffe eines Mittelalters und einer Renaissance -- zu beseitigen,
durch welche mehr als durch irgend etwas anderes das Verständnis
unserer Gegenwart nicht allein verdunkelt, sondern geradezu unmög-
lich gemacht wird. An die Stelle dieser Schemen, welche Irrtümer
ohne Ende erzeugen, wird dann die einfache und klare Erkenntnis treten,
dass unsere gesamte heutige Civilisation und Kultur das Werk einer
bestimmten Menschenart ist: des Germanen.1) Es ist unwahr, dass
der germanische Barbar die sogenannte "Nacht des Mittelalters" herauf-
beschwor; diese Nacht folgt vielmehr auf den intellektuellen und
moralischen Bankrott des durch das untergehende römische Imperium
grossgezogenen rassenlosen Menschenchaos; ohne den Germanen hätte
sich ewige Nacht über die Welt gesenkt; ohne den unaufhörlichen
Widerstand der Nichtgermanen, ohne den unablässigen Krieg, der heute
noch aus dem Herzen des nie ausgetilgten Völkerchaos gegen alles
Germanische geführt wird, hätten wir eine ganz andere Kulturstufe
erreicht als diejenige, deren Zeuge das 19. Jahrhundert war. Ebenso
unwahr ist es, dass unsere Kultur eine Wiedergeburt der hellenischen
und der römischen ist: erst durch die Geburt des Germanen wurde die

1) Unter diesem Namen fasse ich die verschiedenen Glieder der einen
grossen nordeuropäischen Rasse zusammen, gleichviel ob Germanen im engeren,
taciteischen Sinne des Wortes oder Kelten oder echte Slaven -- worüber alles
Nähere im sechsten Kapitel nachzusehen ist.

Allgemeine Einleitung.
neue Welt und eine neue Civilisation, grundverschieden von der
helleno-römischen, der turanischen, der ägyptischen, der chinesischen
und allen andern früheren oder zeitgenössischen. — Als den Anfang
dieser neuen Civilisation, d. h. als den Augenblick, wo sie begann,
der Welt ihren besonderen Stempel aufzudrücken, können wir,
glaube ich, das 13. Jahrhundert bestimmen. Zwar hatten Einzelne
schon weit früher germanische Eigenart in kultureller Thätigkeit be-
währt — wie König Alfred, Karl der Grosse, Scotus Erigena u. s. w. —
doch nicht Einzelne, sondern Gesamtheiten machen Geschichte; diese
Einzelnen waren nur Vorbereiter gewesen; um eine civilisatorische
Gewalt zu werden, musste der Germane in breiten Schichten zur Be-
thätigung seines Eigenwillens im Gegensatz zu dem ihm aufgedrungenen
fremden Willen erwachen und erstarken. Das geschah nicht auf ein-
mal, es geschah auch nicht auf allen Lebensgebieten zugleich; insofern
ist die Wahl des Jahres 1200 als Grenze eine willkürliche, doch glaube
ich sie in folgendem rechtfertigen zu können und habe alles gewonnen,
wenn es mir hierdurch gelingt, jene beiden Undinge — die Be-
griffe eines Mittelalters und einer Renaissance — zu beseitigen,
durch welche mehr als durch irgend etwas anderes das Verständnis
unserer Gegenwart nicht allein verdunkelt, sondern geradezu unmög-
lich gemacht wird. An die Stelle dieser Schemen, welche Irrtümer
ohne Ende erzeugen, wird dann die einfache und klare Erkenntnis treten,
dass unsere gesamte heutige Civilisation und Kultur das Werk einer
bestimmten Menschenart ist: des Germanen.1) Es ist unwahr, dass
der germanische Barbar die sogenannte »Nacht des Mittelalters« herauf-
beschwor; diese Nacht folgt vielmehr auf den intellektuellen und
moralischen Bankrott des durch das untergehende römische Imperium
grossgezogenen rassenlosen Menschenchaos; ohne den Germanen hätte
sich ewige Nacht über die Welt gesenkt; ohne den unaufhörlichen
Widerstand der Nichtgermanen, ohne den unablässigen Krieg, der heute
noch aus dem Herzen des nie ausgetilgten Völkerchaos gegen alles
Germanische geführt wird, hätten wir eine ganz andere Kulturstufe
erreicht als diejenige, deren Zeuge das 19. Jahrhundert war. Ebenso
unwahr ist es, dass unsere Kultur eine Wiedergeburt der hellenischen
und der römischen ist: erst durch die Geburt des Germanen wurde die

1) Unter diesem Namen fasse ich die verschiedenen Glieder der einen
grossen nordeuropäischen Rasse zusammen, gleichviel ob Germanen im engeren,
taciteischen Sinne des Wortes oder Kelten oder echte Slaven — worüber alles
Nähere im sechsten Kapitel nachzusehen ist.
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[9/0032] Allgemeine Einleitung. neue Welt und eine neue Civilisation, grundverschieden von der helleno-römischen, der turanischen, der ägyptischen, der chinesischen und allen andern früheren oder zeitgenössischen. — Als den Anfang dieser neuen Civilisation, d. h. als den Augenblick, wo sie begann, der Welt ihren besonderen Stempel aufzudrücken, können wir, glaube ich, das 13. Jahrhundert bestimmen. Zwar hatten Einzelne schon weit früher germanische Eigenart in kultureller Thätigkeit be- währt — wie König Alfred, Karl der Grosse, Scotus Erigena u. s. w. — doch nicht Einzelne, sondern Gesamtheiten machen Geschichte; diese Einzelnen waren nur Vorbereiter gewesen; um eine civilisatorische Gewalt zu werden, musste der Germane in breiten Schichten zur Be- thätigung seines Eigenwillens im Gegensatz zu dem ihm aufgedrungenen fremden Willen erwachen und erstarken. Das geschah nicht auf ein- mal, es geschah auch nicht auf allen Lebensgebieten zugleich; insofern ist die Wahl des Jahres 1200 als Grenze eine willkürliche, doch glaube ich sie in folgendem rechtfertigen zu können und habe alles gewonnen, wenn es mir hierdurch gelingt, jene beiden Undinge — die Be- griffe eines Mittelalters und einer Renaissance — zu beseitigen, durch welche mehr als durch irgend etwas anderes das Verständnis unserer Gegenwart nicht allein verdunkelt, sondern geradezu unmög- lich gemacht wird. An die Stelle dieser Schemen, welche Irrtümer ohne Ende erzeugen, wird dann die einfache und klare Erkenntnis treten, dass unsere gesamte heutige Civilisation und Kultur das Werk einer bestimmten Menschenart ist: des Germanen. 1) Es ist unwahr, dass der germanische Barbar die sogenannte »Nacht des Mittelalters« herauf- beschwor; diese Nacht folgt vielmehr auf den intellektuellen und moralischen Bankrott des durch das untergehende römische Imperium grossgezogenen rassenlosen Menschenchaos; ohne den Germanen hätte sich ewige Nacht über die Welt gesenkt; ohne den unaufhörlichen Widerstand der Nichtgermanen, ohne den unablässigen Krieg, der heute noch aus dem Herzen des nie ausgetilgten Völkerchaos gegen alles Germanische geführt wird, hätten wir eine ganz andere Kulturstufe erreicht als diejenige, deren Zeuge das 19. Jahrhundert war. Ebenso unwahr ist es, dass unsere Kultur eine Wiedergeburt der hellenischen und der römischen ist: erst durch die Geburt des Germanen wurde die 1) Unter diesem Namen fasse ich die verschiedenen Glieder der einen grossen nordeuropäischen Rasse zusammen, gleichviel ob Germanen im engeren, taciteischen Sinne des Wortes oder Kelten oder echte Slaven — worüber alles Nähere im sechsten Kapitel nachzusehen ist.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/32>, abgerufen am 19.04.2024.