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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Allgemeine Einleitung.
Wiedergeburt vergangener Grossthaten möglich, nicht umgekehrt; und
dieser rinascimento, dem wir ohne Frage für die Bereicherung unseres
Lebens ewigen Dank schuldig sind, wirkte dennoch mindestens ebenso
hemmend wie fördernd und warf uns auf lange Zeit aus unserer gesunden
Bahn heraus. Die mächtigsten Schöpfer jener Epoche -- ein Shakespeare,
ein Michelangelo -- können kein Wort griechisch oder lateinisch. Die
wirtschaftliche Entwicklung -- die Grundlage unserer Civilisation --
findet im Gegensatz zu klassischen Traditionen und im blutigen Kampfe
gegen imperiale Irrlehren statt. Der grösste aller Irrtümer ist aber
die Annahme, dass unsere Civilisation und Kultur der Ausdruck eines
allgemeinen Fortschrittes der Menschheit sei; es zeugt keine
einzige Thatsache der Geschichte für diese so beliebte Deutung (wie
ich das im neunten Kapitel dieses Buches unwiderleglich dargethan
zu haben glaube); inzwischen schlägt uns diese hohle Phrase mit
Blindheit und wir sehen nicht ein -- was doch klar vor Aller Augen
liegt -- dass unsere Civilisation und Kultur, wie jede frühere und
jede andere zeitgenössische, das Werk einer bestimmten, individuellen
Menschenart ist, einer Menschenart, die hohe Gaben, doch auch
enge unübersteigbare Schranken, wie alles Individuelle, besitzt. Und
so schwärmen unsere Gedanken in einem Grenzenlosen, in einer
hypothetischen "Menschheit" herum, achten aber dabei des konkret
Gegebenen und des in der Geschichte einzig Wirksamen, nämlich
des bestimmten Individuums, gar nicht. Daher die Unklarheit unserer
geschichtlichen Gliederungen. Denn, zieht man einen Strich durch
das Jahr 500, einen zweiten durch das Jahr 1500, und nennt diese
tausend Jahre das Mittelalter, so hat man den organischen Körper der
Geschichte nicht zerlegt wie ein kundiger Anatom, sondern zerhackt
wie ein Fleischer. Die Einnahme Roms durch Odoaker und durch
Dietrich von Bern sind nur Episoden in jenem Eintritt der Germanen
in die Weltgeschichte, die ein Jahrtausend gewährt hat; das Ent-
scheidende, nämlich die Idee des unnationalen Weltimperiums, hörte
hiermit so wenig auf zu sein, dass sie im Gegenteil aus der Dazwischen-
kunft der Germanen auf lange hinaus neues Leben schöpfte.
Während also das Jahr 1, als (ungefähres) Geburtsjahr Christi, ein für
die Geschichte des Menschengeschlechts und auch für die blosse
Historie ewig denkwürdiges Datum festhält, besagt das Jahr 500
garnichts. Noch schlimmer steht es um das Jahr 1500; denn ziehen
wir hier einen Strich, so ziehen wir ihn mitten durch alle bewussten
und unbewussten Bestrebungen und Entwickelungen -- wirtschaft-

Allgemeine Einleitung.
Wiedergeburt vergangener Grossthaten möglich, nicht umgekehrt; und
dieser rinascimento, dem wir ohne Frage für die Bereicherung unseres
Lebens ewigen Dank schuldig sind, wirkte dennoch mindestens ebenso
hemmend wie fördernd und warf uns auf lange Zeit aus unserer gesunden
Bahn heraus. Die mächtigsten Schöpfer jener Epoche — ein Shakespeare,
ein Michelangelo — können kein Wort griechisch oder lateinisch. Die
wirtschaftliche Entwicklung — die Grundlage unserer Civilisation —
findet im Gegensatz zu klassischen Traditionen und im blutigen Kampfe
gegen imperiale Irrlehren statt. Der grösste aller Irrtümer ist aber
die Annahme, dass unsere Civilisation und Kultur der Ausdruck eines
allgemeinen Fortschrittes der Menschheit sei; es zeugt keine
einzige Thatsache der Geschichte für diese so beliebte Deutung (wie
ich das im neunten Kapitel dieses Buches unwiderleglich dargethan
zu haben glaube); inzwischen schlägt uns diese hohle Phrase mit
Blindheit und wir sehen nicht ein — was doch klar vor Aller Augen
liegt — dass unsere Civilisation und Kultur, wie jede frühere und
jede andere zeitgenössische, das Werk einer bestimmten, individuellen
Menschenart ist, einer Menschenart, die hohe Gaben, doch auch
enge unübersteigbare Schranken, wie alles Individuelle, besitzt. Und
so schwärmen unsere Gedanken in einem Grenzenlosen, in einer
hypothetischen »Menschheit« herum, achten aber dabei des konkret
Gegebenen und des in der Geschichte einzig Wirksamen, nämlich
des bestimmten Individuums, gar nicht. Daher die Unklarheit unserer
geschichtlichen Gliederungen. Denn, zieht man einen Strich durch
das Jahr 500, einen zweiten durch das Jahr 1500, und nennt diese
tausend Jahre das Mittelalter, so hat man den organischen Körper der
Geschichte nicht zerlegt wie ein kundiger Anatom, sondern zerhackt
wie ein Fleischer. Die Einnahme Roms durch Odoaker und durch
Dietrich von Bern sind nur Episoden in jenem Eintritt der Germanen
in die Weltgeschichte, die ein Jahrtausend gewährt hat; das Ent-
scheidende, nämlich die Idee des unnationalen Weltimperiums, hörte
hiermit so wenig auf zu sein, dass sie im Gegenteil aus der Dazwischen-
kunft der Germanen auf lange hinaus neues Leben schöpfte.
Während also das Jahr 1, als (ungefähres) Geburtsjahr Christi, ein für
die Geschichte des Menschengeschlechts und auch für die blosse
Historie ewig denkwürdiges Datum festhält, besagt das Jahr 500
garnichts. Noch schlimmer steht es um das Jahr 1500; denn ziehen
wir hier einen Strich, so ziehen wir ihn mitten durch alle bewussten
und unbewussten Bestrebungen und Entwickelungen — wirtschaft-

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[10/0033] Allgemeine Einleitung. Wiedergeburt vergangener Grossthaten möglich, nicht umgekehrt; und dieser rinascimento, dem wir ohne Frage für die Bereicherung unseres Lebens ewigen Dank schuldig sind, wirkte dennoch mindestens ebenso hemmend wie fördernd und warf uns auf lange Zeit aus unserer gesunden Bahn heraus. Die mächtigsten Schöpfer jener Epoche — ein Shakespeare, ein Michelangelo — können kein Wort griechisch oder lateinisch. Die wirtschaftliche Entwicklung — die Grundlage unserer Civilisation — findet im Gegensatz zu klassischen Traditionen und im blutigen Kampfe gegen imperiale Irrlehren statt. Der grösste aller Irrtümer ist aber die Annahme, dass unsere Civilisation und Kultur der Ausdruck eines allgemeinen Fortschrittes der Menschheit sei; es zeugt keine einzige Thatsache der Geschichte für diese so beliebte Deutung (wie ich das im neunten Kapitel dieses Buches unwiderleglich dargethan zu haben glaube); inzwischen schlägt uns diese hohle Phrase mit Blindheit und wir sehen nicht ein — was doch klar vor Aller Augen liegt — dass unsere Civilisation und Kultur, wie jede frühere und jede andere zeitgenössische, das Werk einer bestimmten, individuellen Menschenart ist, einer Menschenart, die hohe Gaben, doch auch enge unübersteigbare Schranken, wie alles Individuelle, besitzt. Und so schwärmen unsere Gedanken in einem Grenzenlosen, in einer hypothetischen »Menschheit« herum, achten aber dabei des konkret Gegebenen und des in der Geschichte einzig Wirksamen, nämlich des bestimmten Individuums, gar nicht. Daher die Unklarheit unserer geschichtlichen Gliederungen. Denn, zieht man einen Strich durch das Jahr 500, einen zweiten durch das Jahr 1500, und nennt diese tausend Jahre das Mittelalter, so hat man den organischen Körper der Geschichte nicht zerlegt wie ein kundiger Anatom, sondern zerhackt wie ein Fleischer. Die Einnahme Roms durch Odoaker und durch Dietrich von Bern sind nur Episoden in jenem Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte, die ein Jahrtausend gewährt hat; das Ent- scheidende, nämlich die Idee des unnationalen Weltimperiums, hörte hiermit so wenig auf zu sein, dass sie im Gegenteil aus der Dazwischen- kunft der Germanen auf lange hinaus neues Leben schöpfte. Während also das Jahr 1, als (ungefähres) Geburtsjahr Christi, ein für die Geschichte des Menschengeschlechts und auch für die blosse Historie ewig denkwürdiges Datum festhält, besagt das Jahr 500 garnichts. Noch schlimmer steht es um das Jahr 1500; denn ziehen wir hier einen Strich, so ziehen wir ihn mitten durch alle bewussten und unbewussten Bestrebungen und Entwickelungen — wirtschaft-

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/33>, abgerufen am 28.03.2024.