Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite
Allgemeine Einleitung.

Ein Kapitel schicke ich jedoch diesen Betrachtungen voraus,
ein Kapitel über die "neuen Kräfte", welche sich in diesem Jahr-
hundert geltend gemacht und ihm seine charakteristische Physiognomie
verliehen haben, die aber in dem Rahmen eines der allgemeinen
Kapitel nicht zur rechten Geltung kommen können. Die Presse
zum Beispiel ist zugleich eine politische und eine soziale Macht aller-
ersten Ranges; ihre riesige Entwickelung in unserem Jahrhundert hängt
jedoch auf das allerengste mit Industrie und Technik zusammen, nicht
so sehr, meine ich, in Bezug auf die Herstellung der Zeitungen durch
schnell arbeitende Maschinen u. s. w., als vielmehr durch die elektrische
Telegraphie, welche den Blättern die Nachrichten bringt, und die
Eisenbahnen, welche die gedruckte Nachricht überallhin verbreiten;
die Presse ist der mächtigste Bundesgenosse des Kapitalismus; auf
Kunst, Philosophie und Wissenschaft kann sie zwar nicht im letzten
Grund bestimmenden Einfluss ausüben, sie vermag es aber auch hier,
beschleunigend oder retardierend und somit in hohem Masse auf
die Zeit gestaltend zu wirken. Es ist dies eine Kraft, welche die
früheren Jahrhunderte nicht gekannt haben. Gleicher Weise hat eine
neue Technik, die Erfindung und Vervollkommnung der Eisenbahn
und des Dampfschiffes, sowie der elektrischen Telegraphie,
einen schwer abzuschätzenden Einfluss auf fast alle Gebiete mensch-
licher Thätigkeit ausgeübt und die Physiognomie und Lebensbe-
dingungen unserer Erde tief umgestaltet: ganz direkt ist hier die
Wirkung auf die Strategik und dadurch auf die gesamte Politik, sowie
auch auf den Handel und auf die Industrie; indirekt werden aber
sogar Wissenschaft und Kunst davon betroffen: mit leichter Mühe
begeben sich die Astronomen aller Länder an das Nordkap oder nach
den Fidschiinseln, um eine totale Sonnenfinsternis zu beobachten, und
die deutschen Bühnenfestspiele in Bayreuth sind gegen Schluss des
Jahrhunderts, dank der Eisenbahn und dem Dampfschiff, zu einem
lebendigen Mittelpunkt der dramatischen Kunst für die ganze Welt
geworden. Ebenfalls hierhin rechne ich die Emanzipation der
Juden.
Wie jede neu entfesselte Kraft, wie die Presse und der
Schnellverkehr, hat wohl dieser plötzliche Einbruch der Juden in das
Leben der die Weltgeschichte tragenden europäischen Völker nicht
bloss Gutes im Gefolge gehabt; die sogenannte klassische Renaissance
war doch bloss eine Wiedergeburt von Ideen, die jüdische Renaissance
ist dagegen die Wiederauferstehung eines längst totgeglaubten Lazarus,
welcher Sitten und Denkarten der antiken Welt in die neue hinein-

Allgemeine Einleitung.

Ein Kapitel schicke ich jedoch diesen Betrachtungen voraus,
ein Kapitel über die »neuen Kräfte«, welche sich in diesem Jahr-
hundert geltend gemacht und ihm seine charakteristische Physiognomie
verliehen haben, die aber in dem Rahmen eines der allgemeinen
Kapitel nicht zur rechten Geltung kommen können. Die Presse
zum Beispiel ist zugleich eine politische und eine soziale Macht aller-
ersten Ranges; ihre riesige Entwickelung in unserem Jahrhundert hängt
jedoch auf das allerengste mit Industrie und Technik zusammen, nicht
so sehr, meine ich, in Bezug auf die Herstellung der Zeitungen durch
schnell arbeitende Maschinen u. s. w., als vielmehr durch die elektrische
Telegraphie, welche den Blättern die Nachrichten bringt, und die
Eisenbahnen, welche die gedruckte Nachricht überallhin verbreiten;
die Presse ist der mächtigste Bundesgenosse des Kapitalismus; auf
Kunst, Philosophie und Wissenschaft kann sie zwar nicht im letzten
Grund bestimmenden Einfluss ausüben, sie vermag es aber auch hier,
beschleunigend oder retardierend und somit in hohem Masse auf
die Zeit gestaltend zu wirken. Es ist dies eine Kraft, welche die
früheren Jahrhunderte nicht gekannt haben. Gleicher Weise hat eine
neue Technik, die Erfindung und Vervollkommnung der Eisenbahn
und des Dampfschiffes, sowie der elektrischen Telegraphie,
einen schwer abzuschätzenden Einfluss auf fast alle Gebiete mensch-
licher Thätigkeit ausgeübt und die Physiognomie und Lebensbe-
dingungen unserer Erde tief umgestaltet: ganz direkt ist hier die
Wirkung auf die Strategik und dadurch auf die gesamte Politik, sowie
auch auf den Handel und auf die Industrie; indirekt werden aber
sogar Wissenschaft und Kunst davon betroffen: mit leichter Mühe
begeben sich die Astronomen aller Länder an das Nordkap oder nach
den Fidschiinseln, um eine totale Sonnenfinsternis zu beobachten, und
die deutschen Bühnenfestspiele in Bayreuth sind gegen Schluss des
Jahrhunderts, dank der Eisenbahn und dem Dampfschiff, zu einem
lebendigen Mittelpunkt der dramatischen Kunst für die ganze Welt
geworden. Ebenfalls hierhin rechne ich die Emanzipation der
Juden.
Wie jede neu entfesselte Kraft, wie die Presse und der
Schnellverkehr, hat wohl dieser plötzliche Einbruch der Juden in das
Leben der die Weltgeschichte tragenden europäischen Völker nicht
bloss Gutes im Gefolge gehabt; die sogenannte klassische Renaissance
war doch bloss eine Wiedergeburt von Ideen, die jüdische Renaissance
ist dagegen die Wiederauferstehung eines längst totgeglaubten Lazarus,
welcher Sitten und Denkarten der antiken Welt in die neue hinein-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0044" n="21"/>
        <fw place="top" type="header">Allgemeine Einleitung.</fw><lb/>
        <p>Ein Kapitel schicke ich jedoch diesen Betrachtungen voraus,<lb/>
ein Kapitel über die »neuen Kräfte«, welche sich in diesem Jahr-<lb/>
hundert geltend gemacht und ihm seine charakteristische Physiognomie<lb/>
verliehen haben, die aber in dem Rahmen eines der allgemeinen<lb/>
Kapitel nicht zur rechten Geltung kommen können. Die <hi rendition="#g">Presse</hi><lb/>
zum Beispiel ist zugleich eine politische und eine soziale Macht aller-<lb/>
ersten Ranges; ihre riesige Entwickelung in unserem Jahrhundert hängt<lb/>
jedoch auf das allerengste mit Industrie und Technik zusammen, nicht<lb/>
so sehr, meine ich, in Bezug auf die Herstellung der Zeitungen durch<lb/>
schnell arbeitende Maschinen u. s. w., als vielmehr durch die elektrische<lb/>
Telegraphie, welche den Blättern die Nachrichten bringt, und die<lb/>
Eisenbahnen, welche die gedruckte Nachricht überallhin verbreiten;<lb/>
die Presse ist der mächtigste Bundesgenosse des Kapitalismus; auf<lb/>
Kunst, Philosophie und Wissenschaft kann sie zwar nicht im letzten<lb/>
Grund bestimmenden Einfluss ausüben, sie vermag es aber auch hier,<lb/>
beschleunigend oder retardierend und somit in hohem Masse auf<lb/>
die Zeit gestaltend zu wirken. Es ist dies eine Kraft, welche die<lb/>
früheren Jahrhunderte nicht gekannt haben. Gleicher Weise hat eine<lb/>
neue Technik, die Erfindung und Vervollkommnung der <hi rendition="#g">Eisenbahn</hi><lb/>
und des <hi rendition="#g">Dampfschiffes,</hi> sowie der elektrischen <hi rendition="#g">Telegraphie,</hi><lb/>
einen schwer abzuschätzenden Einfluss auf fast alle Gebiete mensch-<lb/>
licher Thätigkeit ausgeübt und die Physiognomie und Lebensbe-<lb/>
dingungen unserer Erde tief umgestaltet: ganz direkt ist hier die<lb/>
Wirkung auf die Strategik und dadurch auf die gesamte Politik, sowie<lb/>
auch auf den Handel und auf die Industrie; indirekt werden aber<lb/>
sogar Wissenschaft und Kunst davon betroffen: mit leichter Mühe<lb/>
begeben sich die Astronomen aller Länder an das Nordkap oder nach<lb/>
den Fidschiinseln, um eine totale Sonnenfinsternis zu beobachten, und<lb/>
die deutschen Bühnenfestspiele in Bayreuth sind gegen Schluss des<lb/>
Jahrhunderts, dank der Eisenbahn und dem Dampfschiff, zu einem<lb/>
lebendigen Mittelpunkt der dramatischen Kunst für die ganze Welt<lb/>
geworden. Ebenfalls hierhin rechne ich die <hi rendition="#g">Emanzipation der<lb/>
Juden.</hi> Wie jede neu entfesselte Kraft, wie die Presse und der<lb/>
Schnellverkehr, hat wohl dieser plötzliche Einbruch der Juden in das<lb/>
Leben der die Weltgeschichte tragenden europäischen Völker nicht<lb/>
bloss Gutes im Gefolge gehabt; die sogenannte klassische Renaissance<lb/>
war doch bloss eine Wiedergeburt von Ideen, die jüdische Renaissance<lb/>
ist dagegen die Wiederauferstehung eines längst totgeglaubten Lazarus,<lb/>
welcher Sitten und Denkarten der antiken Welt in die neue hinein-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[21/0044] Allgemeine Einleitung. Ein Kapitel schicke ich jedoch diesen Betrachtungen voraus, ein Kapitel über die »neuen Kräfte«, welche sich in diesem Jahr- hundert geltend gemacht und ihm seine charakteristische Physiognomie verliehen haben, die aber in dem Rahmen eines der allgemeinen Kapitel nicht zur rechten Geltung kommen können. Die Presse zum Beispiel ist zugleich eine politische und eine soziale Macht aller- ersten Ranges; ihre riesige Entwickelung in unserem Jahrhundert hängt jedoch auf das allerengste mit Industrie und Technik zusammen, nicht so sehr, meine ich, in Bezug auf die Herstellung der Zeitungen durch schnell arbeitende Maschinen u. s. w., als vielmehr durch die elektrische Telegraphie, welche den Blättern die Nachrichten bringt, und die Eisenbahnen, welche die gedruckte Nachricht überallhin verbreiten; die Presse ist der mächtigste Bundesgenosse des Kapitalismus; auf Kunst, Philosophie und Wissenschaft kann sie zwar nicht im letzten Grund bestimmenden Einfluss ausüben, sie vermag es aber auch hier, beschleunigend oder retardierend und somit in hohem Masse auf die Zeit gestaltend zu wirken. Es ist dies eine Kraft, welche die früheren Jahrhunderte nicht gekannt haben. Gleicher Weise hat eine neue Technik, die Erfindung und Vervollkommnung der Eisenbahn und des Dampfschiffes, sowie der elektrischen Telegraphie, einen schwer abzuschätzenden Einfluss auf fast alle Gebiete mensch- licher Thätigkeit ausgeübt und die Physiognomie und Lebensbe- dingungen unserer Erde tief umgestaltet: ganz direkt ist hier die Wirkung auf die Strategik und dadurch auf die gesamte Politik, sowie auch auf den Handel und auf die Industrie; indirekt werden aber sogar Wissenschaft und Kunst davon betroffen: mit leichter Mühe begeben sich die Astronomen aller Länder an das Nordkap oder nach den Fidschiinseln, um eine totale Sonnenfinsternis zu beobachten, und die deutschen Bühnenfestspiele in Bayreuth sind gegen Schluss des Jahrhunderts, dank der Eisenbahn und dem Dampfschiff, zu einem lebendigen Mittelpunkt der dramatischen Kunst für die ganze Welt geworden. Ebenfalls hierhin rechne ich die Emanzipation der Juden. Wie jede neu entfesselte Kraft, wie die Presse und der Schnellverkehr, hat wohl dieser plötzliche Einbruch der Juden in das Leben der die Weltgeschichte tragenden europäischen Völker nicht bloss Gutes im Gefolge gehabt; die sogenannte klassische Renaissance war doch bloss eine Wiedergeburt von Ideen, die jüdische Renaissance ist dagegen die Wiederauferstehung eines längst totgeglaubten Lazarus, welcher Sitten und Denkarten der antiken Welt in die neue hinein-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/44
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/44>, abgerufen am 19.04.2024.