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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Allgemeine Einleitung.
Denkens und des Forschens erstreckt hat und, von seinen Erfolgen
berauscht, eine derartige Tyrannei ausübte, dass, wer nicht bedingungs-
los zu ihm schwor, als totgeboren zu erachten war. -- Die Philo-
sophie aller dieser Erscheinungen geht mich hier nichts an; ich zweifle
nicht, dass der Geist der Gesamtheit in zweckmässiger Weise sich
äussert. Ich darf aber Goethe's Worte mir zu eigen machen: "Was
sich mir vor Allem aufdringt, ist das Volk, eine grosse Masse, ein
notwendiges, unwillkürliches Dasein", und hierdurch meine Über-
zeugung begründen und erklären, dass grosse Männer wohl die Blüten
der Geschichte sind, jedoch nicht ihre Wurzeln. Darum halte ich
es für geboten, ein Jahrhundert weniger durch die Aufzählung seiner
bedeutendsten Männer, als durch Hervorhebung der anonymen Strö-
mungen zu schildern, welche auf den verschiedensten Gebieten des
sozialen, des industriellen und des wissenschaftlichen Lebens dem Jahr-
hundert ein besonderes, eigenartiges Gepräge verliehen haben.

Das Genie.

Jedoch es giebt eine Ausnahme. Sobald nicht mehr die bloss
beobachtende, vergleichende, berechnende, oder die bloss erfindende,
industrielle, den Kampf ums Leben führende Geistesthätigkeit, sondern
die rein schöpferische in Betracht kommt, da gilt die Persönlich-
keit allein. Die Geschichte der Kunst und der Philosophie ist die
Geschichte einzelner Männer, nämlich der wirklich schöpferischen
Genies. Alles Übrige zählt hier nicht. Was innerhalb des Rahmens
der Philosophie sonst geleistet wird, und es wird da Vieles und Be-
deutendes geleistet, gehört zur "Wissenschaft"; in der Kunst gehört
es zum Kunstgewerbe, also zur Industrie.

Ich lege umsomehr Gewicht hierauf, als eine bedauerliche Kon-
fusion heute gerade in dieser Beziehung herrscht. Der Begriff und
damit auch das Wort Genie kamen im vorigen Jahrhundert auf; sie
entsprangen aus dem Bedürfnis, für die spezifisch schöpferischen
Geister einen besonderen, kennzeichnenden Ausdruck zu besitzen. Nun
macht aber kein geringerer als Kant darauf aufmerksam, dass "der
grösste Erfinder im Wissenschaftlichen sich nur dem Grade nach vom
gewöhnlichen Menschen unterscheidet, das Genie dagegen spezifisch".
Diese Bemerkung Kant's ist zweifellos richtig, unter dem einen Vor-
behalt, dass wir -- was auch unerlässlich ist -- den Begriff des
Genialen auf jede Schöpfung ausdehnen, in welcher die Phantasie
eine gestaltende, vorwiegende Rolle spielt, und in dieser Beziehung
verdient das philosophische Genie denselben Platz wie das dichterische
oder plastische; wobei ich das Wort Philosophie in seiner alten

Allgemeine Einleitung.
Denkens und des Forschens erstreckt hat und, von seinen Erfolgen
berauscht, eine derartige Tyrannei ausübte, dass, wer nicht bedingungs-
los zu ihm schwor, als totgeboren zu erachten war. — Die Philo-
sophie aller dieser Erscheinungen geht mich hier nichts an; ich zweifle
nicht, dass der Geist der Gesamtheit in zweckmässiger Weise sich
äussert. Ich darf aber Goethe’s Worte mir zu eigen machen: »Was
sich mir vor Allem aufdringt, ist das Volk, eine grosse Masse, ein
notwendiges, unwillkürliches Dasein«, und hierdurch meine Über-
zeugung begründen und erklären, dass grosse Männer wohl die Blüten
der Geschichte sind, jedoch nicht ihre Wurzeln. Darum halte ich
es für geboten, ein Jahrhundert weniger durch die Aufzählung seiner
bedeutendsten Männer, als durch Hervorhebung der anonymen Strö-
mungen zu schildern, welche auf den verschiedensten Gebieten des
sozialen, des industriellen und des wissenschaftlichen Lebens dem Jahr-
hundert ein besonderes, eigenartiges Gepräge verliehen haben.

Das Genie.

Jedoch es giebt eine Ausnahme. Sobald nicht mehr die bloss
beobachtende, vergleichende, berechnende, oder die bloss erfindende,
industrielle, den Kampf ums Leben führende Geistesthätigkeit, sondern
die rein schöpferische in Betracht kommt, da gilt die Persönlich-
keit allein. Die Geschichte der Kunst und der Philosophie ist die
Geschichte einzelner Männer, nämlich der wirklich schöpferischen
Genies. Alles Übrige zählt hier nicht. Was innerhalb des Rahmens
der Philosophie sonst geleistet wird, und es wird da Vieles und Be-
deutendes geleistet, gehört zur »Wissenschaft«; in der Kunst gehört
es zum Kunstgewerbe, also zur Industrie.

Ich lege umsomehr Gewicht hierauf, als eine bedauerliche Kon-
fusion heute gerade in dieser Beziehung herrscht. Der Begriff und
damit auch das Wort Genie kamen im vorigen Jahrhundert auf; sie
entsprangen aus dem Bedürfnis, für die spezifisch schöpferischen
Geister einen besonderen, kennzeichnenden Ausdruck zu besitzen. Nun
macht aber kein geringerer als Kant darauf aufmerksam, dass »der
grösste Erfinder im Wissenschaftlichen sich nur dem Grade nach vom
gewöhnlichen Menschen unterscheidet, das Genie dagegen spezifisch«.
Diese Bemerkung Kant’s ist zweifellos richtig, unter dem einen Vor-
behalt, dass wir — was auch unerlässlich ist — den Begriff des
Genialen auf jede Schöpfung ausdehnen, in welcher die Phantasie
eine gestaltende, vorwiegende Rolle spielt, und in dieser Beziehung
verdient das philosophische Genie denselben Platz wie das dichterische
oder plastische; wobei ich das Wort Philosophie in seiner alten

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[26/0049] Allgemeine Einleitung. Denkens und des Forschens erstreckt hat und, von seinen Erfolgen berauscht, eine derartige Tyrannei ausübte, dass, wer nicht bedingungs- los zu ihm schwor, als totgeboren zu erachten war. — Die Philo- sophie aller dieser Erscheinungen geht mich hier nichts an; ich zweifle nicht, dass der Geist der Gesamtheit in zweckmässiger Weise sich äussert. Ich darf aber Goethe’s Worte mir zu eigen machen: »Was sich mir vor Allem aufdringt, ist das Volk, eine grosse Masse, ein notwendiges, unwillkürliches Dasein«, und hierdurch meine Über- zeugung begründen und erklären, dass grosse Männer wohl die Blüten der Geschichte sind, jedoch nicht ihre Wurzeln. Darum halte ich es für geboten, ein Jahrhundert weniger durch die Aufzählung seiner bedeutendsten Männer, als durch Hervorhebung der anonymen Strö- mungen zu schildern, welche auf den verschiedensten Gebieten des sozialen, des industriellen und des wissenschaftlichen Lebens dem Jahr- hundert ein besonderes, eigenartiges Gepräge verliehen haben. Jedoch es giebt eine Ausnahme. Sobald nicht mehr die bloss beobachtende, vergleichende, berechnende, oder die bloss erfindende, industrielle, den Kampf ums Leben führende Geistesthätigkeit, sondern die rein schöpferische in Betracht kommt, da gilt die Persönlich- keit allein. Die Geschichte der Kunst und der Philosophie ist die Geschichte einzelner Männer, nämlich der wirklich schöpferischen Genies. Alles Übrige zählt hier nicht. Was innerhalb des Rahmens der Philosophie sonst geleistet wird, und es wird da Vieles und Be- deutendes geleistet, gehört zur »Wissenschaft«; in der Kunst gehört es zum Kunstgewerbe, also zur Industrie. Ich lege umsomehr Gewicht hierauf, als eine bedauerliche Kon- fusion heute gerade in dieser Beziehung herrscht. Der Begriff und damit auch das Wort Genie kamen im vorigen Jahrhundert auf; sie entsprangen aus dem Bedürfnis, für die spezifisch schöpferischen Geister einen besonderen, kennzeichnenden Ausdruck zu besitzen. Nun macht aber kein geringerer als Kant darauf aufmerksam, dass »der grösste Erfinder im Wissenschaftlichen sich nur dem Grade nach vom gewöhnlichen Menschen unterscheidet, das Genie dagegen spezifisch«. Diese Bemerkung Kant’s ist zweifellos richtig, unter dem einen Vor- behalt, dass wir — was auch unerlässlich ist — den Begriff des Genialen auf jede Schöpfung ausdehnen, in welcher die Phantasie eine gestaltende, vorwiegende Rolle spielt, und in dieser Beziehung verdient das philosophische Genie denselben Platz wie das dichterische oder plastische; wobei ich das Wort Philosophie in seiner alten

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/49>, abgerufen am 25.04.2024.