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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
seinen Machtansprüchen nie ein Jota preisgab, sonst aber so tolerant
war, wie keine andere Kirchenorganisation. Erst die religiösen Heiss-
sporne in seiner Mitte, namentlich die vielen inneren Protestanten, sowie
die heftige Opposition von aussen zwangen nach und nach dem päpst-
lichen Stuhle eine immer bestimmtere, immer einseitiger werdende
dogmatische Richtung auf, bis zuletzt ein unüberlegter pontifex maximus
unseres Jahrhunderts der gesamten europäischen Kultur in seinem
Syllabus den Krieg erklärte. Das Papsttum war früher weiser; der
grosse Gregor beklagt sich bitter über die Theologen, die mit der
Natur der Gottheit und anderen "unbegreiflichen Dingen" sich und
Andere quälen, anstatt dass sie sich praktischen und wohlthätigen Auf-
gaben widmen. Rom wäre froh gewesen, wenn es gar keine Theologen
gegeben hätte. Wie Herder richtig bemerkt: "Ein Kreuz, ein
Marienbild mit dem Kinde, eine Messe, ein Rosenkranz thaten zu
seinem Zwecke mehr als viel feine Spekulationen würden gethan
haben."1)

Dass diese Laxheit mit ausgesprochener Weltlichkeit Hand in
Hand ging, ist selbstverständlich. Und auch das war ein Element
der Kraft. Der Grieche grübelte und "sublimierte" zu viel, der
religiöse Germane meinte es zu ernst; Rom dagegen wich niemals
vom goldenen Mittelweg ab, auf welchem die ungeheure Mehrzahl
der Menschen am liebsten wandelt. Man braucht nur die Werke des
Origenes zu lesen (als ein Muster dessen, was der Osten erstrebte)
und dann etwa im scharfen Gegensatz hierzu Luther's Von der Freiheit
eines Christenmenschen
(als Zusammenfassung dessen, was der Norden
sich unter Religion dachte), um sofort zu begreifen, wie wenig das
eine und das andere für die Menschen des Völkerchaos passen konnte --
und nicht für sie allein, sondern für Alle, die irgendwie von dem Gifte
der promiscua connubia angesteckt waren. Ein Luther setzt Menschen
voraus, die in sich selbst einen starken Halt finden, Menschen, fähig
innerlich so zu kämpfen, wie er gekämpft hat; ein Origenes bewegt
sich auf Höhen der Erkenntnis, wo die Inder heimisch waren, doch
wahrlich nicht die Einwohner des römischen Reiches, nicht einmal
ein Mann wie Augustinus.2) Rom dagegen verstand auf das Genaueste,

1) Ideen zur Geschichte der Menschheit XIX, 1, 1.
2) Dass Augustinus das hellenische Denken nicht begriff, wurde ihm schon
von Hieronymus vorgeworfen. Wie sehr das von der ganzen römischen Kirche
galt, kann Jeder leicht einsehen lernen, der sich die Mühe nimmt, in Hefele:
Konziliengeschichte, Bd. II, S. 255 fg. das Edikt des Kaisers Justinian gegen Origenes

Religion.
seinen Machtansprüchen nie ein Jota preisgab, sonst aber so tolerant
war, wie keine andere Kirchenorganisation. Erst die religiösen Heiss-
sporne in seiner Mitte, namentlich die vielen inneren Protestanten, sowie
die heftige Opposition von aussen zwangen nach und nach dem päpst-
lichen Stuhle eine immer bestimmtere, immer einseitiger werdende
dogmatische Richtung auf, bis zuletzt ein unüberlegter pontifex maximus
unseres Jahrhunderts der gesamten europäischen Kultur in seinem
Syllabus den Krieg erklärte. Das Papsttum war früher weiser; der
grosse Gregor beklagt sich bitter über die Theologen, die mit der
Natur der Gottheit und anderen »unbegreiflichen Dingen« sich und
Andere quälen, anstatt dass sie sich praktischen und wohlthätigen Auf-
gaben widmen. Rom wäre froh gewesen, wenn es gar keine Theologen
gegeben hätte. Wie Herder richtig bemerkt: »Ein Kreuz, ein
Marienbild mit dem Kinde, eine Messe, ein Rosenkranz thaten zu
seinem Zwecke mehr als viel feine Spekulationen würden gethan
haben.«1)

Dass diese Laxheit mit ausgesprochener Weltlichkeit Hand in
Hand ging, ist selbstverständlich. Und auch das war ein Element
der Kraft. Der Grieche grübelte und »sublimierte« zu viel, der
religiöse Germane meinte es zu ernst; Rom dagegen wich niemals
vom goldenen Mittelweg ab, auf welchem die ungeheure Mehrzahl
der Menschen am liebsten wandelt. Man braucht nur die Werke des
Origenes zu lesen (als ein Muster dessen, was der Osten erstrebte)
und dann etwa im scharfen Gegensatz hierzu Luther’s Von der Freiheit
eines Christenmenschen
(als Zusammenfassung dessen, was der Norden
sich unter Religion dachte), um sofort zu begreifen, wie wenig das
eine und das andere für die Menschen des Völkerchaos passen konnte —
und nicht für sie allein, sondern für Alle, die irgendwie von dem Gifte
der promiscua connubia angesteckt waren. Ein Luther setzt Menschen
voraus, die in sich selbst einen starken Halt finden, Menschen, fähig
innerlich so zu kämpfen, wie er gekämpft hat; ein Origenes bewegt
sich auf Höhen der Erkenntnis, wo die Inder heimisch waren, doch
wahrlich nicht die Einwohner des römischen Reiches, nicht einmal
ein Mann wie Augustinus.2) Rom dagegen verstand auf das Genaueste,

1) Ideen zur Geschichte der Menschheit XIX, 1, 1.
2) Dass Augustinus das hellenische Denken nicht begriff, wurde ihm schon
von Hieronymus vorgeworfen. Wie sehr das von der ganzen römischen Kirche
galt, kann Jeder leicht einsehen lernen, der sich die Mühe nimmt, in Hefele:
Konziliengeschichte, Bd. II, S. 255 fg. das Edikt des Kaisers Justinian gegen Origenes
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[633/0112] Religion. seinen Machtansprüchen nie ein Jota preisgab, sonst aber so tolerant war, wie keine andere Kirchenorganisation. Erst die religiösen Heiss- sporne in seiner Mitte, namentlich die vielen inneren Protestanten, sowie die heftige Opposition von aussen zwangen nach und nach dem päpst- lichen Stuhle eine immer bestimmtere, immer einseitiger werdende dogmatische Richtung auf, bis zuletzt ein unüberlegter pontifex maximus unseres Jahrhunderts der gesamten europäischen Kultur in seinem Syllabus den Krieg erklärte. Das Papsttum war früher weiser; der grosse Gregor beklagt sich bitter über die Theologen, die mit der Natur der Gottheit und anderen »unbegreiflichen Dingen« sich und Andere quälen, anstatt dass sie sich praktischen und wohlthätigen Auf- gaben widmen. Rom wäre froh gewesen, wenn es gar keine Theologen gegeben hätte. Wie Herder richtig bemerkt: »Ein Kreuz, ein Marienbild mit dem Kinde, eine Messe, ein Rosenkranz thaten zu seinem Zwecke mehr als viel feine Spekulationen würden gethan haben.« 1) Dass diese Laxheit mit ausgesprochener Weltlichkeit Hand in Hand ging, ist selbstverständlich. Und auch das war ein Element der Kraft. Der Grieche grübelte und »sublimierte« zu viel, der religiöse Germane meinte es zu ernst; Rom dagegen wich niemals vom goldenen Mittelweg ab, auf welchem die ungeheure Mehrzahl der Menschen am liebsten wandelt. Man braucht nur die Werke des Origenes zu lesen (als ein Muster dessen, was der Osten erstrebte) und dann etwa im scharfen Gegensatz hierzu Luther’s Von der Freiheit eines Christenmenschen (als Zusammenfassung dessen, was der Norden sich unter Religion dachte), um sofort zu begreifen, wie wenig das eine und das andere für die Menschen des Völkerchaos passen konnte — und nicht für sie allein, sondern für Alle, die irgendwie von dem Gifte der promiscua connubia angesteckt waren. Ein Luther setzt Menschen voraus, die in sich selbst einen starken Halt finden, Menschen, fähig innerlich so zu kämpfen, wie er gekämpft hat; ein Origenes bewegt sich auf Höhen der Erkenntnis, wo die Inder heimisch waren, doch wahrlich nicht die Einwohner des römischen Reiches, nicht einmal ein Mann wie Augustinus. 2) Rom dagegen verstand auf das Genaueste, 1) Ideen zur Geschichte der Menschheit XIX, 1, 1. 2) Dass Augustinus das hellenische Denken nicht begriff, wurde ihm schon von Hieronymus vorgeworfen. Wie sehr das von der ganzen römischen Kirche galt, kann Jeder leicht einsehen lernen, der sich die Mühe nimmt, in Hefele: Konziliengeschichte, Bd. II, S. 255 fg. das Edikt des Kaisers Justinian gegen Origenes

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 633. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/112>, abgerufen am 23.04.2024.