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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
wie ich soeben bemerkte, den Charakter und die Bedürfnisse jener
buntgemischten Bevölkerung, welche Jahrhunderte hindurch Träger
und Vermittler der Civilisation und der Kultur sein sollte. Rom
forderte weder Charaktergrösse noch selbständiges Denken von seinen
Anhängern, das nahm ihnen die Kirche selber ab; für jede Begabung,
für jede Schwärmerei hatte es zwar Platz -- unter der einen Bedingung
des Gehorsams --, doch bildeten solche begabte und schwärmerische
Menschen nur Hilfstruppen; denn das Augenmerk blieb unverrückt
der grossen Menge zugewandt und für sie wurde nun die Religion
so vollständig aus Herz und Kopf in die sichtbare Kirche verlegt, dass
sie Jedem zugänglich, Jedem verständlich, Jedem zum Greifen deutlich
gemacht war.1) Niemals hat eine Institution eine so bewundernswerte,
zielbewusste Kenntnis des mittleren Menschenwesens gezeigt wie jene
Kirche, welche sich schon sehr zeitig um den römischen pontifex
maximus
als Mittelpunkt zu organisieren begann. Von den Juden
nahm sie die Hierokratie, die Intoleranz, den geschichtlichen Materialis-
mus -- hütete sich jedoch sorgsam vor den unerbittlich strengen,
sittlichen Geboten und der erhabenen Einfachheit des allem Aberglauben

und die fünfzehn Anathematismen der constantinopolitanischen Synode des Jahres
543 über ihn zu lesen. Was diese Leute übersahen, ist für die Beurteilung ihrer
Geistesanlagen ebenso lehrreich wie das, was sie des Anathemas würdig fanden.
Dass z. B. Origines das peccatum originale als schon vor dem sogenannten
Sündenfalle bestehend annimmt, haben die Eiferer gar nicht bemerkt, und doch
ist das, wie ich oben zeigte, der Mittelpunkt seiner durch und durch anti-
römischen Religion. Dagegen war es ihnen ein höchster Greuel, dass dieser
klare hellenische Geist die Mehrheit der bewohnten Welten als ein Selbstverständ-
liches voraussetzte und dass er lehrte, die Erde müsse nach und nach im Laufe
eines Entwickelungsprozesses geworden sein! Am entsetzlichsten fanden sie aber,
dass er die Vernichtung des Körpers im Tode als eine Befreiung pries (wogegen
diese von Rom geleiteten Menschen des Völkerchaos sich die Unsterblichkeit nicht
anders denn als das ewige Leben ihres elenden Leibes denken konnten). U. s. w., u. s. w.
Manche Päpste, z. B. Cölestin, der Zermalmer des Nestorius, verstanden kein Wort
Griechisch und verfügten überhaupt nur über eine geringe Bildung, was Niemand
wundern wird, der durch Hefele's Konziliengeschichte belehrt worden ist, dass
gar mancher jener Bischöfe, die durch ihre Majoritätsbeschlüsse das christliche
Dogma begründeten, weder lesen noch schreiben, nicht einmal den eigenen Namen
unterschreiben konnten.
1) Die temperamentvolle afrikanische Kirche war hier, wie in so manchen
Dingen, der römischen mit gutem Beispiel vorangegangen und hatte in ihr Glaubens-
bekenntnis die Worte aufgenommen: "Ich glaube Sündenvergebung, Fleischesauf-
erstehung und ewiges Leben durch die heilige Kirche" (siehe Harnack: Das
apostolische Glaubensbekenntnis,
27. A., S. 9).

Der Kampf.
wie ich soeben bemerkte, den Charakter und die Bedürfnisse jener
buntgemischten Bevölkerung, welche Jahrhunderte hindurch Träger
und Vermittler der Civilisation und der Kultur sein sollte. Rom
forderte weder Charaktergrösse noch selbständiges Denken von seinen
Anhängern, das nahm ihnen die Kirche selber ab; für jede Begabung,
für jede Schwärmerei hatte es zwar Platz — unter der einen Bedingung
des Gehorsams —, doch bildeten solche begabte und schwärmerische
Menschen nur Hilfstruppen; denn das Augenmerk blieb unverrückt
der grossen Menge zugewandt und für sie wurde nun die Religion
so vollständig aus Herz und Kopf in die sichtbare Kirche verlegt, dass
sie Jedem zugänglich, Jedem verständlich, Jedem zum Greifen deutlich
gemacht war.1) Niemals hat eine Institution eine so bewundernswerte,
zielbewusste Kenntnis des mittleren Menschenwesens gezeigt wie jene
Kirche, welche sich schon sehr zeitig um den römischen pontifex
maximus
als Mittelpunkt zu organisieren begann. Von den Juden
nahm sie die Hierokratie, die Intoleranz, den geschichtlichen Materialis-
mus — hütete sich jedoch sorgsam vor den unerbittlich strengen,
sittlichen Geboten und der erhabenen Einfachheit des allem Aberglauben

und die fünfzehn Anathematismen der constantinopolitanischen Synode des Jahres
543 über ihn zu lesen. Was diese Leute übersahen, ist für die Beurteilung ihrer
Geistesanlagen ebenso lehrreich wie das, was sie des Anathemas würdig fanden.
Dass z. B. Origines das peccatum originale als schon vor dem sogenannten
Sündenfalle bestehend annimmt, haben die Eiferer gar nicht bemerkt, und doch
ist das, wie ich oben zeigte, der Mittelpunkt seiner durch und durch anti-
römischen Religion. Dagegen war es ihnen ein höchster Greuel, dass dieser
klare hellenische Geist die Mehrheit der bewohnten Welten als ein Selbstverständ-
liches voraussetzte und dass er lehrte, die Erde müsse nach und nach im Laufe
eines Entwickelungsprozesses geworden sein! Am entsetzlichsten fanden sie aber,
dass er die Vernichtung des Körpers im Tode als eine Befreiung pries (wogegen
diese von Rom geleiteten Menschen des Völkerchaos sich die Unsterblichkeit nicht
anders denn als das ewige Leben ihres elenden Leibes denken konnten). U. s. w., u. s. w.
Manche Päpste, z. B. Cölestin, der Zermalmer des Nestorius, verstanden kein Wort
Griechisch und verfügten überhaupt nur über eine geringe Bildung, was Niemand
wundern wird, der durch Hefele’s Konziliengeschichte belehrt worden ist, dass
gar mancher jener Bischöfe, die durch ihre Majoritätsbeschlüsse das christliche
Dogma begründeten, weder lesen noch schreiben, nicht einmal den eigenen Namen
unterschreiben konnten.
1) Die temperamentvolle afrikanische Kirche war hier, wie in so manchen
Dingen, der römischen mit gutem Beispiel vorangegangen und hatte in ihr Glaubens-
bekenntnis die Worte aufgenommen: »Ich glaube Sündenvergebung, Fleischesauf-
erstehung und ewiges Leben durch die heilige Kirche« (siehe Harnack: Das
apostolische Glaubensbekenntnis,
27. A., S. 9).
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[634/0113] Der Kampf. wie ich soeben bemerkte, den Charakter und die Bedürfnisse jener buntgemischten Bevölkerung, welche Jahrhunderte hindurch Träger und Vermittler der Civilisation und der Kultur sein sollte. Rom forderte weder Charaktergrösse noch selbständiges Denken von seinen Anhängern, das nahm ihnen die Kirche selber ab; für jede Begabung, für jede Schwärmerei hatte es zwar Platz — unter der einen Bedingung des Gehorsams —, doch bildeten solche begabte und schwärmerische Menschen nur Hilfstruppen; denn das Augenmerk blieb unverrückt der grossen Menge zugewandt und für sie wurde nun die Religion so vollständig aus Herz und Kopf in die sichtbare Kirche verlegt, dass sie Jedem zugänglich, Jedem verständlich, Jedem zum Greifen deutlich gemacht war. 1) Niemals hat eine Institution eine so bewundernswerte, zielbewusste Kenntnis des mittleren Menschenwesens gezeigt wie jene Kirche, welche sich schon sehr zeitig um den römischen pontifex maximus als Mittelpunkt zu organisieren begann. Von den Juden nahm sie die Hierokratie, die Intoleranz, den geschichtlichen Materialis- mus — hütete sich jedoch sorgsam vor den unerbittlich strengen, sittlichen Geboten und der erhabenen Einfachheit des allem Aberglauben 2) 1) Die temperamentvolle afrikanische Kirche war hier, wie in so manchen Dingen, der römischen mit gutem Beispiel vorangegangen und hatte in ihr Glaubens- bekenntnis die Worte aufgenommen: »Ich glaube Sündenvergebung, Fleischesauf- erstehung und ewiges Leben durch die heilige Kirche« (siehe Harnack: Das apostolische Glaubensbekenntnis, 27. A., S. 9). 2) und die fünfzehn Anathematismen der constantinopolitanischen Synode des Jahres 543 über ihn zu lesen. Was diese Leute übersahen, ist für die Beurteilung ihrer Geistesanlagen ebenso lehrreich wie das, was sie des Anathemas würdig fanden. Dass z. B. Origines das peccatum originale als schon vor dem sogenannten Sündenfalle bestehend annimmt, haben die Eiferer gar nicht bemerkt, und doch ist das, wie ich oben zeigte, der Mittelpunkt seiner durch und durch anti- römischen Religion. Dagegen war es ihnen ein höchster Greuel, dass dieser klare hellenische Geist die Mehrheit der bewohnten Welten als ein Selbstverständ- liches voraussetzte und dass er lehrte, die Erde müsse nach und nach im Laufe eines Entwickelungsprozesses geworden sein! Am entsetzlichsten fanden sie aber, dass er die Vernichtung des Körpers im Tode als eine Befreiung pries (wogegen diese von Rom geleiteten Menschen des Völkerchaos sich die Unsterblichkeit nicht anders denn als das ewige Leben ihres elenden Leibes denken konnten). U. s. w., u. s. w. Manche Päpste, z. B. Cölestin, der Zermalmer des Nestorius, verstanden kein Wort Griechisch und verfügten überhaupt nur über eine geringe Bildung, was Niemand wundern wird, der durch Hefele’s Konziliengeschichte belehrt worden ist, dass gar mancher jener Bischöfe, die durch ihre Majoritätsbeschlüsse das christliche Dogma begründeten, weder lesen noch schreiben, nicht einmal den eigenen Namen unterschreiben konnten.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 634. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/113>, abgerufen am 25.04.2024.