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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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gekämpft hatten, unterliegt heute keinem Zweifel. Ob die Vorstellung
in dieser besonderen semitischen Form der ägypto-römischen Mysterien
bei den Indoeuropäern je bestanden hat, erscheint mir allerdings sehr
zweifelhaft; doch hatten gerade die Indoeuropäer inzwischen eine andere
Idee bis zu lichtvoller Klarheit ausgebildet, diejenige nämlich der Stell-
vertretung
bei Opfern: in sacris simulata pro veris accipi.1) So
sehen wir z. B. schon die alten Inder gebackene Kuchen in Scheiben-
form (Hostien) als symbolische Vertreter der zu schlachtenden Tiere
verwenden! In dem römischen Chaos nun, wo alle Gedanken un-
organisch untereinander gemischt, sich herumtrieben, fand eine Ver-
schmelzung jener semitischen, magischen Vorstellung des im Menschen
bewirkten Stoffwechsels mit dieser arischen symbolischen Vorstellung
der simulata pro veris statt, welche in Wahrheit nichts weiter bezweckt
hatte, als die Verlegung des früher buchstäblich aufgefassten Dank-
opfers in das Herz des Opfernden.2) So genoss man denn in den Opfer-
mahlen der vorchristlichen römischen Mysterienkulte nicht mehr Fleisch
und Blut, sondern Brod und Wein -- magisch umgewandelt. Eine
wie grosse Rolle diese Mysterien spielten, ist bekannt: ein Jeder wird
sich zum wenigsten erinnern bei Cicero: De legibus II, 14 gelesen zu
haben, erst diese Mysterien (schon damals aus einer "Taufe" und einem
"Liebesmahl" bestehend) hätten den Menschen "im Leben Verstand und
im Tode Hoffnung geschenkt". Niemandem wird es aber entgehen,
dass wir hier, in diesen renati, eine Auffassung der Wiedergeburt vor
uns haben, der von Christus gelehrten und gelebten direkt entgegen-
gesetzt. Christ und Antichrist stehen sich gegenüber. Dem absoluten
Idealismus, der eine völlige Umwandlung des inneren Menschen, seiner
Motive und seiner Ziele erstrebt, stellt sich hier ein bis zum Wahnsinn
gesteigerter Materialismus entgegen, der durch den Genuss einer ge-
heimnisvollen Speise eine magische Umwandlung des vergänglichen
Individuums zu einem unsterblichen Leibe erhofft. Es bedeutet diese
Vorstellung einen moralischen Atavismus, wie ihn einzig eine Zeit des
absoluten Verfalles hervorbringen konnte.

Wie auf Anderes, so auch auf diese Mysterien wirkte das frühe,
echte Christentum idealisierend und benutzte die Formen seiner Zeit, um
sie mit einem neuen Inhalt zu füllen. In der ältesten nachevangelischen

1) Siehe Leist: Gräco-italienische Rechtsgeschichte S. 267 fg., Jhering: Vorgeschichte
der Indoeuropäer,
S. 313; u. s. w.
2) So fasst es in seinen guten Stunden auch Augustinus auf: "nos ipsi in
cordibus nostris invisibile sacrificium esse debemus
" (De civ. Dei, X, 19).

Religion.
gekämpft hatten, unterliegt heute keinem Zweifel. Ob die Vorstellung
in dieser besonderen semitischen Form der ägypto-römischen Mysterien
bei den Indoeuropäern je bestanden hat, erscheint mir allerdings sehr
zweifelhaft; doch hatten gerade die Indoeuropäer inzwischen eine andere
Idee bis zu lichtvoller Klarheit ausgebildet, diejenige nämlich der Stell-
vertretung
bei Opfern: in sacris simulata pro veris accipi.1) So
sehen wir z. B. schon die alten Inder gebackene Kuchen in Scheiben-
form (Hostien) als symbolische Vertreter der zu schlachtenden Tiere
verwenden! In dem römischen Chaos nun, wo alle Gedanken un-
organisch untereinander gemischt, sich herumtrieben, fand eine Ver-
schmelzung jener semitischen, magischen Vorstellung des im Menschen
bewirkten Stoffwechsels mit dieser arischen symbolischen Vorstellung
der simulata pro veris statt, welche in Wahrheit nichts weiter bezweckt
hatte, als die Verlegung des früher buchstäblich aufgefassten Dank-
opfers in das Herz des Opfernden.2) So genoss man denn in den Opfer-
mahlen der vorchristlichen römischen Mysterienkulte nicht mehr Fleisch
und Blut, sondern Brod und Wein — magisch umgewandelt. Eine
wie grosse Rolle diese Mysterien spielten, ist bekannt: ein Jeder wird
sich zum wenigsten erinnern bei Cicero: De legibus II, 14 gelesen zu
haben, erst diese Mysterien (schon damals aus einer »Taufe« und einem
»Liebesmahl« bestehend) hätten den Menschen »im Leben Verstand und
im Tode Hoffnung geschenkt«. Niemandem wird es aber entgehen,
dass wir hier, in diesen renati, eine Auffassung der Wiedergeburt vor
uns haben, der von Christus gelehrten und gelebten direkt entgegen-
gesetzt. Christ und Antichrist stehen sich gegenüber. Dem absoluten
Idealismus, der eine völlige Umwandlung des inneren Menschen, seiner
Motive und seiner Ziele erstrebt, stellt sich hier ein bis zum Wahnsinn
gesteigerter Materialismus entgegen, der durch den Genuss einer ge-
heimnisvollen Speise eine magische Umwandlung des vergänglichen
Individuums zu einem unsterblichen Leibe erhofft. Es bedeutet diese
Vorstellung einen moralischen Atavismus, wie ihn einzig eine Zeit des
absoluten Verfalles hervorbringen konnte.

Wie auf Anderes, so auch auf diese Mysterien wirkte das frühe,
echte Christentum idealisierend und benutzte die Formen seiner Zeit, um
sie mit einem neuen Inhalt zu füllen. In der ältesten nachevangelischen

1) Siehe Leist: Gräco-italienische Rechtsgeschichte S. 267 fg., Jhering: Vorgeschichte
der Indoeuropäer,
S. 313; u. s. w.
2) So fasst es in seinen guten Stunden auch Augustinus auf: »nos ipsi in
cordibus nostris invisibile sacrificium esse debemus
« (De civ. Dei, X, 19).
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[637/0116] Religion. gekämpft hatten, unterliegt heute keinem Zweifel. Ob die Vorstellung in dieser besonderen semitischen Form der ägypto-römischen Mysterien bei den Indoeuropäern je bestanden hat, erscheint mir allerdings sehr zweifelhaft; doch hatten gerade die Indoeuropäer inzwischen eine andere Idee bis zu lichtvoller Klarheit ausgebildet, diejenige nämlich der Stell- vertretung bei Opfern: in sacris simulata pro veris accipi. 1) So sehen wir z. B. schon die alten Inder gebackene Kuchen in Scheiben- form (Hostien) als symbolische Vertreter der zu schlachtenden Tiere verwenden! In dem römischen Chaos nun, wo alle Gedanken un- organisch untereinander gemischt, sich herumtrieben, fand eine Ver- schmelzung jener semitischen, magischen Vorstellung des im Menschen bewirkten Stoffwechsels mit dieser arischen symbolischen Vorstellung der simulata pro veris statt, welche in Wahrheit nichts weiter bezweckt hatte, als die Verlegung des früher buchstäblich aufgefassten Dank- opfers in das Herz des Opfernden. 2) So genoss man denn in den Opfer- mahlen der vorchristlichen römischen Mysterienkulte nicht mehr Fleisch und Blut, sondern Brod und Wein — magisch umgewandelt. Eine wie grosse Rolle diese Mysterien spielten, ist bekannt: ein Jeder wird sich zum wenigsten erinnern bei Cicero: De legibus II, 14 gelesen zu haben, erst diese Mysterien (schon damals aus einer »Taufe« und einem »Liebesmahl« bestehend) hätten den Menschen »im Leben Verstand und im Tode Hoffnung geschenkt«. Niemandem wird es aber entgehen, dass wir hier, in diesen renati, eine Auffassung der Wiedergeburt vor uns haben, der von Christus gelehrten und gelebten direkt entgegen- gesetzt. Christ und Antichrist stehen sich gegenüber. Dem absoluten Idealismus, der eine völlige Umwandlung des inneren Menschen, seiner Motive und seiner Ziele erstrebt, stellt sich hier ein bis zum Wahnsinn gesteigerter Materialismus entgegen, der durch den Genuss einer ge- heimnisvollen Speise eine magische Umwandlung des vergänglichen Individuums zu einem unsterblichen Leibe erhofft. Es bedeutet diese Vorstellung einen moralischen Atavismus, wie ihn einzig eine Zeit des absoluten Verfalles hervorbringen konnte. Wie auf Anderes, so auch auf diese Mysterien wirkte das frühe, echte Christentum idealisierend und benutzte die Formen seiner Zeit, um sie mit einem neuen Inhalt zu füllen. In der ältesten nachevangelischen 1) Siehe Leist: Gräco-italienische Rechtsgeschichte S. 267 fg., Jhering: Vorgeschichte der Indoeuropäer, S. 313; u. s. w. 2) So fasst es in seinen guten Stunden auch Augustinus auf: »nos ipsi in cordibus nostris invisibile sacrificium esse debemus« (De civ. Dei, X, 19).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 637. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/116>, abgerufen am 28.03.2024.