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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
aller Christen unter ihrem oberhirtlichen Stabe, als an Diskussionen,
welche die Kirche in ihren Grundvesten erschüttern konnten. Doch
als im 11. Jahrhundert der Feuergeist Berengar von Tours wiederum
die Religion des Idealismus durchs ganze Frankenreich zu tragen begonnen
hatte, konnte die Entscheidung nicht länger ausbleiben. Jetzt sass
auf dem päpstlichen Stuhle ein Gregor VII., der Verfasser des Dictatus
papae,
1) in welchem zum ersten Mal unumwunden erklärt worden
war, Kaiser und Fürsten seien dem Papst unbedingt unterthan; es war
derjenige pontifex maximus, der zuerst sämtlichen Bischöfen der Kirche
den Vasalleneid widerspruchsloser Treue gegen Rom auferlegt hatte, ein
Mann, dessen reine Gesinnung seine ohnehin grosse Kraft verzehn-
fachte; jetzt fühlte sich Rom auch stark genug, seine Anschauung in
Bezug auf das Abendmahl durchzusetzen. Von einem Gefängnis ins
andere, von einem Konzil zum anderen gejagt, musste Berengar zuletzt,
um sein Leben zu retten, im Jahre 1059 in Rom vor einer Versammlung
von 113 Bischöfen,2) seine Lehre widerrufen und sich zum Glauben
bekennen: "das Brot sei nicht bloss ein Sakrament, sondern der wahre
Leib Christi, der von den Zähnen zerkaut werde." -- Dennoch dauerte

1) In neuerer Zeit wird die Autorschaft des Papstes in Frage gestellt, doch geben
die wissenschaftlich ernst zu nehmenden römischen Katholiken zu, dass diese Darlegung
der vermeintlichen "Rechte" Rom's, wenn nicht von dem Papste selbst, so doch aus
dem Kreise seiner intimsten Verehrer stamme und somit wenigstens in der Hauptsache
die Meinungen Gregor's richtig wiedergebe, was ja ohnehin durch seine Handlungen
und Briefe bestätigt wird (siehe z B. Hefele: a. a. O., 2. Ausg., V, 75). Höchst komisch
nimmt sich dagegen das sich Hin- und Herwinden der unter jesuitischem Einfluss Ge-
schichte schreibenden Gelehrten aus; von dem grossen Gregor haben sie manches ent-
nommen, nicht aber seine Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe, und so verballhornen sie
die Thaten und Worte gerade desjenigen Papstes, unter welchem die römische Staats-
idee ihre edelste, reinste, uneigennützigste Form und darum auch ihren grössten
moralischen Einfluss erreichte. Man sehe z. B., welche Mühe der Seminarprofessor
Brück (a. a. O., § 114) sich giebt um darzuthun, Gregor habe "keine Universal-
monarchie gewollt", er habe die Fürsten "nicht als seine Vasallen betrachtet" u. s. w.,
wobei Brück aber doch nicht ganz verschweigen kann, dass Gregor von einem
imperium Christi geredet und alle Fürsten und Völker ermahnt habe, in der Kirche
ihre "Vorgesetzte und Herrin anzuerkennen". Derartige Spiegelfechterei den grossen
Grundthatsachen der Geschichte gegenüber ist ebenso unwürdig wie unfruchtbar:
die römische hierokratische Weltstaatsidee ist grossartig genug, dass man sich ihrer
nicht zu schämen braucht.
2) "Wilde Tiere" nennt er sie in einem Brief an den Papst, die zu brüllen
anhüben bei dem blossen Wort "geistige Gemeinschaft mit Christus" (siehe Neander:
a. a. O., VI, 317). Später nannte Berengar den päpstlichen Stuhl sedem non apo-
stolicam, sed sedem satanae.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 41

Religion.
aller Christen unter ihrem oberhirtlichen Stabe, als an Diskussionen,
welche die Kirche in ihren Grundvesten erschüttern konnten. Doch
als im 11. Jahrhundert der Feuergeist Berengar von Tours wiederum
die Religion des Idealismus durchs ganze Frankenreich zu tragen begonnen
hatte, konnte die Entscheidung nicht länger ausbleiben. Jetzt sass
auf dem päpstlichen Stuhle ein Gregor VII., der Verfasser des Dictatus
papae,
1) in welchem zum ersten Mal unumwunden erklärt worden
war, Kaiser und Fürsten seien dem Papst unbedingt unterthan; es war
derjenige pontifex maximus, der zuerst sämtlichen Bischöfen der Kirche
den Vasalleneid widerspruchsloser Treue gegen Rom auferlegt hatte, ein
Mann, dessen reine Gesinnung seine ohnehin grosse Kraft verzehn-
fachte; jetzt fühlte sich Rom auch stark genug, seine Anschauung in
Bezug auf das Abendmahl durchzusetzen. Von einem Gefängnis ins
andere, von einem Konzil zum anderen gejagt, musste Berengar zuletzt,
um sein Leben zu retten, im Jahre 1059 in Rom vor einer Versammlung
von 113 Bischöfen,2) seine Lehre widerrufen und sich zum Glauben
bekennen: »das Brot sei nicht bloss ein Sakrament, sondern der wahre
Leib Christi, der von den Zähnen zerkaut werde.« — Dennoch dauerte

1) In neuerer Zeit wird die Autorschaft des Papstes in Frage gestellt, doch geben
die wissenschaftlich ernst zu nehmenden römischen Katholiken zu, dass diese Darlegung
der vermeintlichen »Rechte« Rom’s, wenn nicht von dem Papste selbst, so doch aus
dem Kreise seiner intimsten Verehrer stamme und somit wenigstens in der Hauptsache
die Meinungen Gregor’s richtig wiedergebe, was ja ohnehin durch seine Handlungen
und Briefe bestätigt wird (siehe z B. Hefele: a. a. O., 2. Ausg., V, 75). Höchst komisch
nimmt sich dagegen das sich Hin- und Herwinden der unter jesuitischem Einfluss Ge-
schichte schreibenden Gelehrten aus; von dem grossen Gregor haben sie manches ent-
nommen, nicht aber seine Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe, und so verballhornen sie
die Thaten und Worte gerade desjenigen Papstes, unter welchem die römische Staats-
idee ihre edelste, reinste, uneigennützigste Form und darum auch ihren grössten
moralischen Einfluss erreichte. Man sehe z. B., welche Mühe der Seminarprofessor
Brück (a. a. O., § 114) sich giebt um darzuthun, Gregor habe »keine Universal-
monarchie gewollt«, er habe die Fürsten »nicht als seine Vasallen betrachtet« u. s. w.,
wobei Brück aber doch nicht ganz verschweigen kann, dass Gregor von einem
imperium Christi geredet und alle Fürsten und Völker ermahnt habe, in der Kirche
ihre »Vorgesetzte und Herrin anzuerkennen«. Derartige Spiegelfechterei den grossen
Grundthatsachen der Geschichte gegenüber ist ebenso unwürdig wie unfruchtbar:
die römische hierokratische Weltstaatsidee ist grossartig genug, dass man sich ihrer
nicht zu schämen braucht.
2) »Wilde Tiere« nennt er sie in einem Brief an den Papst, die zu brüllen
anhüben bei dem blossen Wort »geistige Gemeinschaft mit Christus« (siehe Neander:
a. a. O., VI, 317). Später nannte Berengar den päpstlichen Stuhl sedem non apo-
stolicam, sed sedem satanae.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 41
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[641/0120] Religion. aller Christen unter ihrem oberhirtlichen Stabe, als an Diskussionen, welche die Kirche in ihren Grundvesten erschüttern konnten. Doch als im 11. Jahrhundert der Feuergeist Berengar von Tours wiederum die Religion des Idealismus durchs ganze Frankenreich zu tragen begonnen hatte, konnte die Entscheidung nicht länger ausbleiben. Jetzt sass auf dem päpstlichen Stuhle ein Gregor VII., der Verfasser des Dictatus papae, 1) in welchem zum ersten Mal unumwunden erklärt worden war, Kaiser und Fürsten seien dem Papst unbedingt unterthan; es war derjenige pontifex maximus, der zuerst sämtlichen Bischöfen der Kirche den Vasalleneid widerspruchsloser Treue gegen Rom auferlegt hatte, ein Mann, dessen reine Gesinnung seine ohnehin grosse Kraft verzehn- fachte; jetzt fühlte sich Rom auch stark genug, seine Anschauung in Bezug auf das Abendmahl durchzusetzen. Von einem Gefängnis ins andere, von einem Konzil zum anderen gejagt, musste Berengar zuletzt, um sein Leben zu retten, im Jahre 1059 in Rom vor einer Versammlung von 113 Bischöfen, 2) seine Lehre widerrufen und sich zum Glauben bekennen: »das Brot sei nicht bloss ein Sakrament, sondern der wahre Leib Christi, der von den Zähnen zerkaut werde.« — Dennoch dauerte 1) In neuerer Zeit wird die Autorschaft des Papstes in Frage gestellt, doch geben die wissenschaftlich ernst zu nehmenden römischen Katholiken zu, dass diese Darlegung der vermeintlichen »Rechte« Rom’s, wenn nicht von dem Papste selbst, so doch aus dem Kreise seiner intimsten Verehrer stamme und somit wenigstens in der Hauptsache die Meinungen Gregor’s richtig wiedergebe, was ja ohnehin durch seine Handlungen und Briefe bestätigt wird (siehe z B. Hefele: a. a. O., 2. Ausg., V, 75). Höchst komisch nimmt sich dagegen das sich Hin- und Herwinden der unter jesuitischem Einfluss Ge- schichte schreibenden Gelehrten aus; von dem grossen Gregor haben sie manches ent- nommen, nicht aber seine Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe, und so verballhornen sie die Thaten und Worte gerade desjenigen Papstes, unter welchem die römische Staats- idee ihre edelste, reinste, uneigennützigste Form und darum auch ihren grössten moralischen Einfluss erreichte. Man sehe z. B., welche Mühe der Seminarprofessor Brück (a. a. O., § 114) sich giebt um darzuthun, Gregor habe »keine Universal- monarchie gewollt«, er habe die Fürsten »nicht als seine Vasallen betrachtet« u. s. w., wobei Brück aber doch nicht ganz verschweigen kann, dass Gregor von einem imperium Christi geredet und alle Fürsten und Völker ermahnt habe, in der Kirche ihre »Vorgesetzte und Herrin anzuerkennen«. Derartige Spiegelfechterei den grossen Grundthatsachen der Geschichte gegenüber ist ebenso unwürdig wie unfruchtbar: die römische hierokratische Weltstaatsidee ist grossartig genug, dass man sich ihrer nicht zu schämen braucht. 2) »Wilde Tiere« nennt er sie in einem Brief an den Papst, die zu brüllen anhüben bei dem blossen Wort »geistige Gemeinschaft mit Christus« (siehe Neander: a. a. O., VI, 317). Später nannte Berengar den päpstlichen Stuhl sedem non apo- stolicam, sed sedem satanae. Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 41

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 641. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/120>, abgerufen am 25.04.2024.