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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
slavischen Vettern für individuelle Neubildungen -- ihre Sprachen und
Literaturen beweisen es -- reich begabt waren. Diese Gabe nun,
welche wir bei den Einen nicht mehr, bei den Anderen noch heute
vorhanden finden, ist es, die wir in der Geschichte am Werke sehen,
nicht bewusst, nicht als Theorie, nicht philosophisch bewiesen, nicht
auf juristischen Institutionen und göttlichen Offenbarungen aufgebaut,
doch mit der Unbezwingbarkeit eines Naturgesetzes alle Hindernisse
überwindend, zerstörend, wo es zu zerstören galt -- denn woran sind
die ungesunden Bestrebungen des römischen Kaisertums germanischer
Könige zu Grunde gegangen, als an der stets wachsamen Eifersucht
der Stämme? -- und zugleich auf allen Seiten unbemerkt, emsig auf-
bauend, so dass die Nationen dastanden, lange ehe die Fürsten sie in
die Landkarten eingetragen hatten. Während gegen das Ende des
12. Jahrhunderts der Wahn eines imperium romanum einen Friedrich
Barbarossa noch bethörte, konnte der deutsche Dichter schon singen:

übel müeze mir geschehen,
künde ich ie mein herze bringen dar,
daz im wol gevallen
wolte fremeder site:
tiuschiu zuht gat vor in allen!

Und als im Jahre 1232 der mächtigste aller Päpste den Feind des
römischen Einflusses in England, den Oberrichter Hubert de Burgh,
durch Vermittlung des Königs hatte gefangen nehmen lassen, fand sich
im ganzen Land kein Schmied, der ihm Handschellen hätte anschmieden
wollen; trotzig antwortete der Geselle, dem man mit der Folter
drohte: "Lieber jeden Tod sterben, als dass ich je Eisen anlegen
sollte dem Manne, der England vor dem Fremden verteidigt hat!"
Der fahrende Sänger wusste, dass es ein deutsches Volk, der Hufeisen-
beschläger, dass es ein englisches Volk gebe, als es manche grosse
Herren der Politik kaum erst zu ahnen begannen.

Das Gesetz der
Begrenzung.

Man sieht, es handelt sich nicht um Windeier, gelegt von einer
geschichtsphilosophischen Henne, sondern um die allerrealsten Dinge.
Und da wir nun wissen, dass wir mit dieser Gegenüberstellung von
Universalismus und Nationalismus die Hand auf konkrete Grundthat-
sachen der Geschichte gelegt haben, möchte ich gern dieser Sache
einen allgemeineren, mehr innerlichen Ausdruck abgewinnen. Damit
steigen wir in die Tiefen der Seele hinab und erwerben uns eine
Einsicht, die gerade für die Beurteilung unseres eigenen Jahrhunderts

Der Kampf.
slavischen Vettern für individuelle Neubildungen — ihre Sprachen und
Literaturen beweisen es — reich begabt waren. Diese Gabe nun,
welche wir bei den Einen nicht mehr, bei den Anderen noch heute
vorhanden finden, ist es, die wir in der Geschichte am Werke sehen,
nicht bewusst, nicht als Theorie, nicht philosophisch bewiesen, nicht
auf juristischen Institutionen und göttlichen Offenbarungen aufgebaut,
doch mit der Unbezwingbarkeit eines Naturgesetzes alle Hindernisse
überwindend, zerstörend, wo es zu zerstören galt — denn woran sind
die ungesunden Bestrebungen des römischen Kaisertums germanischer
Könige zu Grunde gegangen, als an der stets wachsamen Eifersucht
der Stämme? — und zugleich auf allen Seiten unbemerkt, emsig auf-
bauend, so dass die Nationen dastanden, lange ehe die Fürsten sie in
die Landkarten eingetragen hatten. Während gegen das Ende des
12. Jahrhunderts der Wahn eines imperium romanum einen Friedrich
Barbarossa noch bethörte, konnte der deutsche Dichter schon singen:

übel müeze mir geschehen,
künde ich ie mîn herze bringen dar,
daz im wol gevallen
wolte fremeder site:
tiuschiu zuht gât vor in allen!

Und als im Jahre 1232 der mächtigste aller Päpste den Feind des
römischen Einflusses in England, den Oberrichter Hubert de Burgh,
durch Vermittlung des Königs hatte gefangen nehmen lassen, fand sich
im ganzen Land kein Schmied, der ihm Handschellen hätte anschmieden
wollen; trotzig antwortete der Geselle, dem man mit der Folter
drohte: »Lieber jeden Tod sterben, als dass ich je Eisen anlegen
sollte dem Manne, der England vor dem Fremden verteidigt hat!«
Der fahrende Sänger wusste, dass es ein deutsches Volk, der Hufeisen-
beschläger, dass es ein englisches Volk gebe, als es manche grosse
Herren der Politik kaum erst zu ahnen begannen.

Das Gesetz der
Begrenzung.

Man sieht, es handelt sich nicht um Windeier, gelegt von einer
geschichtsphilosophischen Henne, sondern um die allerrealsten Dinge.
Und da wir nun wissen, dass wir mit dieser Gegenüberstellung von
Universalismus und Nationalismus die Hand auf konkrete Grundthat-
sachen der Geschichte gelegt haben, möchte ich gern dieser Sache
einen allgemeineren, mehr innerlichen Ausdruck abgewinnen. Damit
steigen wir in die Tiefen der Seele hinab und erwerben uns eine
Einsicht, die gerade für die Beurteilung unseres eigenen Jahrhunderts

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[662/0141] Der Kampf. slavischen Vettern für individuelle Neubildungen — ihre Sprachen und Literaturen beweisen es — reich begabt waren. Diese Gabe nun, welche wir bei den Einen nicht mehr, bei den Anderen noch heute vorhanden finden, ist es, die wir in der Geschichte am Werke sehen, nicht bewusst, nicht als Theorie, nicht philosophisch bewiesen, nicht auf juristischen Institutionen und göttlichen Offenbarungen aufgebaut, doch mit der Unbezwingbarkeit eines Naturgesetzes alle Hindernisse überwindend, zerstörend, wo es zu zerstören galt — denn woran sind die ungesunden Bestrebungen des römischen Kaisertums germanischer Könige zu Grunde gegangen, als an der stets wachsamen Eifersucht der Stämme? — und zugleich auf allen Seiten unbemerkt, emsig auf- bauend, so dass die Nationen dastanden, lange ehe die Fürsten sie in die Landkarten eingetragen hatten. Während gegen das Ende des 12. Jahrhunderts der Wahn eines imperium romanum einen Friedrich Barbarossa noch bethörte, konnte der deutsche Dichter schon singen: übel müeze mir geschehen, künde ich ie mîn herze bringen dar, daz im wol gevallen wolte fremeder site: tiuschiu zuht gât vor in allen! Und als im Jahre 1232 der mächtigste aller Päpste den Feind des römischen Einflusses in England, den Oberrichter Hubert de Burgh, durch Vermittlung des Königs hatte gefangen nehmen lassen, fand sich im ganzen Land kein Schmied, der ihm Handschellen hätte anschmieden wollen; trotzig antwortete der Geselle, dem man mit der Folter drohte: »Lieber jeden Tod sterben, als dass ich je Eisen anlegen sollte dem Manne, der England vor dem Fremden verteidigt hat!« Der fahrende Sänger wusste, dass es ein deutsches Volk, der Hufeisen- beschläger, dass es ein englisches Volk gebe, als es manche grosse Herren der Politik kaum erst zu ahnen begannen. Man sieht, es handelt sich nicht um Windeier, gelegt von einer geschichtsphilosophischen Henne, sondern um die allerrealsten Dinge. Und da wir nun wissen, dass wir mit dieser Gegenüberstellung von Universalismus und Nationalismus die Hand auf konkrete Grundthat- sachen der Geschichte gelegt haben, möchte ich gern dieser Sache einen allgemeineren, mehr innerlichen Ausdruck abgewinnen. Damit steigen wir in die Tiefen der Seele hinab und erwerben uns eine Einsicht, die gerade für die Beurteilung unseres eigenen Jahrhunderts

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 662. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/141>, abgerufen am 19.04.2024.