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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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von Wert sein wird; denn jene beiden Strömungen sind noch unter uns
vorhanden, und zwar nicht allein in der sichtbaren Gestalt des pontifex
maximus
, der im Jahre des Heiles 1864 seine zeitliche Allgewalt noch
einmal feierlich behauptete,1) sowie andrerseits in den immer schärfer
hervortretenden nationalen Gegensätzen der Gegenwart, sondern in
gar vielen Ansichten und Urteilen, die wir auf dem Lebenspfade auf-
lesen, ohne zu ahnen, woher sie stammen. Im tiefsten Grunde handelt
es sich eben um zwei Weltauffassungen, die sich gegenseitig so total
ausschliessen, dass die eine unmöglich neben der andren bestehen
könnte und es einen Kampf auf Leben und Tod zwischen ihnen
geben müsste -- trieben die Menschen nicht so ohne Besinnung dahin,
gleich vollbesegelten doch steuerlosen Schiffen, ziellos, gedankenlos
dem Winde gehorchend. Ein Wort des erhaben grossen Germanen,
Goethe, wird auch hier wieder das psychologische Rätsel aufhellen.
In seinen Sprüchen in Prosa schreibt er von der lebendigbeweglichen
Individualität, sie werde sich selbst gewahr "als innerlich Grenzen-
loses, äusserlich Begrenztes". Das ist ein bedeutungsschweres Wort:
äusserlich begrenzt, innerlich grenzenlos. Hiermit wird ein
Grundgesetz alles geistigen Lebens ausgesprochen. Für das menschliche
Individuum heisst nämlich äusserlich begrenzt so viel wie Persönlich-
keit, innerlich grenzenlos so viel wie Freiheit; für ein Volk ebenfalls.
Verfolgt man nun diesen Gedanken, so wird man finden, dass die
beiden Termini sich gegenseitig bedingen. Ohne die äussere Begren-
zung kann die innere Grenzenlosigkeit nicht statthaben; wird dagegen
äussere Unbegrenztheit erstrebt, so wird die Grenze innerlich gezogen
werden müssen. Dies Letztere ist denn auch die Formel des neu-
römischen kirchlichen Imperiums: innerlich begrenzt, äusserlich grenzen-
los. Opfere mir deine menschliche Persönlichkeit und ich schenke dir
Anteil an der Göttlichkeit, opfere mir deine Freiheit und ich schaffe ein
Reich, welches die ganze Erde umfasst und in welchem ewig Ordnung
und Friede herrschen, opfere mir dein Urteil und ich offenbare dir die
absolute Wahrheit, opfere mir die Zeit und ich schenke dir die Ewigkeit.
Denn in der That, die Idee der römischen Universalmonarchie und der
römischen Universalkirche zielt auf ein äusserlich Unbegrenztes: dem
Oberhaupt des Imperiums sind omnes humanae creaturae, d. h. sämt-

1) Siehe den Syllabus § 19 fg., 54 fg., 75 fg., sowie die vielen Artikel
gegen jede Gewissensfreiheit, namentlich § 15: "Wer behauptet, ein Mensch dürfe
diejenige Religion annehmen und bekennen, die er nach bestem Wissen für wahr
hält: der sei gebannt".

Staat.
von Wert sein wird; denn jene beiden Strömungen sind noch unter uns
vorhanden, und zwar nicht allein in der sichtbaren Gestalt des pontifex
maximus
, der im Jahre des Heiles 1864 seine zeitliche Allgewalt noch
einmal feierlich behauptete,1) sowie andrerseits in den immer schärfer
hervortretenden nationalen Gegensätzen der Gegenwart, sondern in
gar vielen Ansichten und Urteilen, die wir auf dem Lebenspfade auf-
lesen, ohne zu ahnen, woher sie stammen. Im tiefsten Grunde handelt
es sich eben um zwei Weltauffassungen, die sich gegenseitig so total
ausschliessen, dass die eine unmöglich neben der andren bestehen
könnte und es einen Kampf auf Leben und Tod zwischen ihnen
geben müsste — trieben die Menschen nicht so ohne Besinnung dahin,
gleich vollbesegelten doch steuerlosen Schiffen, ziellos, gedankenlos
dem Winde gehorchend. Ein Wort des erhaben grossen Germanen,
Goethe, wird auch hier wieder das psychologische Rätsel aufhellen.
In seinen Sprüchen in Prosa schreibt er von der lebendigbeweglichen
Individualität, sie werde sich selbst gewahr »als innerlich Grenzen-
loses, äusserlich Begrenztes«. Das ist ein bedeutungsschweres Wort:
äusserlich begrenzt, innerlich grenzenlos. Hiermit wird ein
Grundgesetz alles geistigen Lebens ausgesprochen. Für das menschliche
Individuum heisst nämlich äusserlich begrenzt so viel wie Persönlich-
keit, innerlich grenzenlos so viel wie Freiheit; für ein Volk ebenfalls.
Verfolgt man nun diesen Gedanken, so wird man finden, dass die
beiden Termini sich gegenseitig bedingen. Ohne die äussere Begren-
zung kann die innere Grenzenlosigkeit nicht statthaben; wird dagegen
äussere Unbegrenztheit erstrebt, so wird die Grenze innerlich gezogen
werden müssen. Dies Letztere ist denn auch die Formel des neu-
römischen kirchlichen Imperiums: innerlich begrenzt, äusserlich grenzen-
los. Opfere mir deine menschliche Persönlichkeit und ich schenke dir
Anteil an der Göttlichkeit, opfere mir deine Freiheit und ich schaffe ein
Reich, welches die ganze Erde umfasst und in welchem ewig Ordnung
und Friede herrschen, opfere mir dein Urteil und ich offenbare dir die
absolute Wahrheit, opfere mir die Zeit und ich schenke dir die Ewigkeit.
Denn in der That, die Idee der römischen Universalmonarchie und der
römischen Universalkirche zielt auf ein äusserlich Unbegrenztes: dem
Oberhaupt des Imperiums sind omnes humanae creaturae, d. h. sämt-

1) Siehe den Syllabus § 19 fg., 54 fg., 75 fg., sowie die vielen Artikel
gegen jede Gewissensfreiheit, namentlich § 15: »Wer behauptet, ein Mensch dürfe
diejenige Religion annehmen und bekennen, die er nach bestem Wissen für wahr
hält: der sei gebannt«.
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[663/0142] Staat. von Wert sein wird; denn jene beiden Strömungen sind noch unter uns vorhanden, und zwar nicht allein in der sichtbaren Gestalt des pontifex maximus, der im Jahre des Heiles 1864 seine zeitliche Allgewalt noch einmal feierlich behauptete, 1) sowie andrerseits in den immer schärfer hervortretenden nationalen Gegensätzen der Gegenwart, sondern in gar vielen Ansichten und Urteilen, die wir auf dem Lebenspfade auf- lesen, ohne zu ahnen, woher sie stammen. Im tiefsten Grunde handelt es sich eben um zwei Weltauffassungen, die sich gegenseitig so total ausschliessen, dass die eine unmöglich neben der andren bestehen könnte und es einen Kampf auf Leben und Tod zwischen ihnen geben müsste — trieben die Menschen nicht so ohne Besinnung dahin, gleich vollbesegelten doch steuerlosen Schiffen, ziellos, gedankenlos dem Winde gehorchend. Ein Wort des erhaben grossen Germanen, Goethe, wird auch hier wieder das psychologische Rätsel aufhellen. In seinen Sprüchen in Prosa schreibt er von der lebendigbeweglichen Individualität, sie werde sich selbst gewahr »als innerlich Grenzen- loses, äusserlich Begrenztes«. Das ist ein bedeutungsschweres Wort: äusserlich begrenzt, innerlich grenzenlos. Hiermit wird ein Grundgesetz alles geistigen Lebens ausgesprochen. Für das menschliche Individuum heisst nämlich äusserlich begrenzt so viel wie Persönlich- keit, innerlich grenzenlos so viel wie Freiheit; für ein Volk ebenfalls. Verfolgt man nun diesen Gedanken, so wird man finden, dass die beiden Termini sich gegenseitig bedingen. Ohne die äussere Begren- zung kann die innere Grenzenlosigkeit nicht statthaben; wird dagegen äussere Unbegrenztheit erstrebt, so wird die Grenze innerlich gezogen werden müssen. Dies Letztere ist denn auch die Formel des neu- römischen kirchlichen Imperiums: innerlich begrenzt, äusserlich grenzen- los. Opfere mir deine menschliche Persönlichkeit und ich schenke dir Anteil an der Göttlichkeit, opfere mir deine Freiheit und ich schaffe ein Reich, welches die ganze Erde umfasst und in welchem ewig Ordnung und Friede herrschen, opfere mir dein Urteil und ich offenbare dir die absolute Wahrheit, opfere mir die Zeit und ich schenke dir die Ewigkeit. Denn in der That, die Idee der römischen Universalmonarchie und der römischen Universalkirche zielt auf ein äusserlich Unbegrenztes: dem Oberhaupt des Imperiums sind omnes humanae creaturae, d. h. sämt- 1) Siehe den Syllabus § 19 fg., 54 fg., 75 fg., sowie die vielen Artikel gegen jede Gewissensfreiheit, namentlich § 15: »Wer behauptet, ein Mensch dürfe diejenige Religion annehmen und bekennen, die er nach bestem Wissen für wahr hält: der sei gebannt«.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 663. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/142>, abgerufen am 28.03.2024.