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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
dieser und jener Papst oder Kaiser, diese oder jene Kirchenversammlung
oder Rechtsautorität gesagt hat (worüber schon so viel Papier geschwärzt
und Zeit verloren worden ist), sondern dass das Zwingende in der Idee
selbst, in dem Streben nach Absolutem, Unbegrenztem liegt. Diese
Einsicht erleuchtet das Urteil ganz ausserordentlich; sie macht gerechter
gegen die römische Kirche und gerechter gegen ihre Gegner; sie lehrt die
wahre politische und überhaupt moralisch entscheidende Entwickelung
dort suchen, wo -- an unzähligen Orten und bei unzähligen Gelegen-
heiten -- Nationalismus und überhaupt Individualismus sich zeigte und
sich im Gegensatz zum Universalismus und Absolutismus behauptete.
Als Karl der Einfältige sich weigerte, Kaiser Arnulf den Lehenseid zu
leisten, schlug er eine tiefe Bresche in das Romanum imperium, eine
so tiefe, dass in keinem späteren Kaiser, die bedeutendsten nicht aus-
genommen, der echte Universalplan Karl's des Grossen ungeschmälert
wieder aufzuleben vermochte. Wilhelm der Eroberer, ein recht-
gläubiger, kirchlich frommer Fürst, um die strenge Kirchenzucht wie
wenige verdient, erwiderte dessenungeachtet, als der Papst das neu
erworbene England als Kirchengut beanspruchte und ihn damit be-
lehnen wollte: "Nie habe ich einen Lehenseid geleistet, noch werde
ich es jemals thun." Das sind die Menschen, welche die weltliche
Macht der Kirche nach und nach gebrochen haben. Sie glaubten an
die Dreieinigkeit, an die Wesensgleichheit des Vaters und des Sohnes,
an das Fegfeuer, an Alles, was die Priester wollten -- das römische
politische Ideal aber, die theokratische civitas Dei, lag ihnen welten-
fern; ihre Vorstellungskraft war noch zu roh, ihr Charakter zu un-
abhängig, ihre Gemütsart eine zu ungebrochen, ja meist wild persön-
liche, als dass sie es auch nur hätten verstehen können. Und solcher
germanischer Fürsten war Europa voll. Geraume Zeit vor der Re-
formation hatte die Unbotmässigkeit der kleinen spanischen Königreiche
trotz aller katholischen Bigotterie der Kurie viel zu schaffen gegeben
und hatte Frankreich, der älteste Sohn der Kirche, seine pragmatische
Sanktion, den Beginn einer reinlichen Scheidung zwischen kirchlichem
Staat und weltlichem Staat, durchgesetzt.

Das war der wahre Kampf im Staate.

Und wer das begreift, muss einsehen, dass Rom auf der ganzen
Linie geschlagen wurde. Die katholischen Staaten haben sich nach
und nach nicht minder emanzipiert als die anderen. Allerdings haben
sie in Bezug auf die Investitur der Bischöfe u. s. w. wichtige Privilegien
preisgegeben, doch nicht alle, und dafür haben die meisten die religiöse

Der Kampf.
dieser und jener Papst oder Kaiser, diese oder jene Kirchenversammlung
oder Rechtsautorität gesagt hat (worüber schon so viel Papier geschwärzt
und Zeit verloren worden ist), sondern dass das Zwingende in der Idee
selbst, in dem Streben nach Absolutem, Unbegrenztem liegt. Diese
Einsicht erleuchtet das Urteil ganz ausserordentlich; sie macht gerechter
gegen die römische Kirche und gerechter gegen ihre Gegner; sie lehrt die
wahre politische und überhaupt moralisch entscheidende Entwickelung
dort suchen, wo — an unzähligen Orten und bei unzähligen Gelegen-
heiten — Nationalismus und überhaupt Individualismus sich zeigte und
sich im Gegensatz zum Universalismus und Absolutismus behauptete.
Als Karl der Einfältige sich weigerte, Kaiser Arnulf den Lehenseid zu
leisten, schlug er eine tiefe Bresche in das Romanum imperium, eine
so tiefe, dass in keinem späteren Kaiser, die bedeutendsten nicht aus-
genommen, der echte Universalplan Karl’s des Grossen ungeschmälert
wieder aufzuleben vermochte. Wilhelm der Eroberer, ein recht-
gläubiger, kirchlich frommer Fürst, um die strenge Kirchenzucht wie
wenige verdient, erwiderte dessenungeachtet, als der Papst das neu
erworbene England als Kirchengut beanspruchte und ihn damit be-
lehnen wollte: »Nie habe ich einen Lehenseid geleistet, noch werde
ich es jemals thun.« Das sind die Menschen, welche die weltliche
Macht der Kirche nach und nach gebrochen haben. Sie glaubten an
die Dreieinigkeit, an die Wesensgleichheit des Vaters und des Sohnes,
an das Fegfeuer, an Alles, was die Priester wollten — das römische
politische Ideal aber, die theokratische civitas Dei, lag ihnen welten-
fern; ihre Vorstellungskraft war noch zu roh, ihr Charakter zu un-
abhängig, ihre Gemütsart eine zu ungebrochen, ja meist wild persön-
liche, als dass sie es auch nur hätten verstehen können. Und solcher
germanischer Fürsten war Europa voll. Geraume Zeit vor der Re-
formation hatte die Unbotmässigkeit der kleinen spanischen Königreiche
trotz aller katholischen Bigotterie der Kurie viel zu schaffen gegeben
und hatte Frankreich, der älteste Sohn der Kirche, seine pragmatische
Sanktion, den Beginn einer reinlichen Scheidung zwischen kirchlichem
Staat und weltlichem Staat, durchgesetzt.

Das war der wahre Kampf im Staate.

Und wer das begreift, muss einsehen, dass Rom auf der ganzen
Linie geschlagen wurde. Die katholischen Staaten haben sich nach
und nach nicht minder emanzipiert als die anderen. Allerdings haben
sie in Bezug auf die Investitur der Bischöfe u. s. w. wichtige Privilegien
preisgegeben, doch nicht alle, und dafür haben die meisten die religiöse

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[676/0155] Der Kampf. dieser und jener Papst oder Kaiser, diese oder jene Kirchenversammlung oder Rechtsautorität gesagt hat (worüber schon so viel Papier geschwärzt und Zeit verloren worden ist), sondern dass das Zwingende in der Idee selbst, in dem Streben nach Absolutem, Unbegrenztem liegt. Diese Einsicht erleuchtet das Urteil ganz ausserordentlich; sie macht gerechter gegen die römische Kirche und gerechter gegen ihre Gegner; sie lehrt die wahre politische und überhaupt moralisch entscheidende Entwickelung dort suchen, wo — an unzähligen Orten und bei unzähligen Gelegen- heiten — Nationalismus und überhaupt Individualismus sich zeigte und sich im Gegensatz zum Universalismus und Absolutismus behauptete. Als Karl der Einfältige sich weigerte, Kaiser Arnulf den Lehenseid zu leisten, schlug er eine tiefe Bresche in das Romanum imperium, eine so tiefe, dass in keinem späteren Kaiser, die bedeutendsten nicht aus- genommen, der echte Universalplan Karl’s des Grossen ungeschmälert wieder aufzuleben vermochte. Wilhelm der Eroberer, ein recht- gläubiger, kirchlich frommer Fürst, um die strenge Kirchenzucht wie wenige verdient, erwiderte dessenungeachtet, als der Papst das neu erworbene England als Kirchengut beanspruchte und ihn damit be- lehnen wollte: »Nie habe ich einen Lehenseid geleistet, noch werde ich es jemals thun.« Das sind die Menschen, welche die weltliche Macht der Kirche nach und nach gebrochen haben. Sie glaubten an die Dreieinigkeit, an die Wesensgleichheit des Vaters und des Sohnes, an das Fegfeuer, an Alles, was die Priester wollten — das römische politische Ideal aber, die theokratische civitas Dei, lag ihnen welten- fern; ihre Vorstellungskraft war noch zu roh, ihr Charakter zu un- abhängig, ihre Gemütsart eine zu ungebrochen, ja meist wild persön- liche, als dass sie es auch nur hätten verstehen können. Und solcher germanischer Fürsten war Europa voll. Geraume Zeit vor der Re- formation hatte die Unbotmässigkeit der kleinen spanischen Königreiche trotz aller katholischen Bigotterie der Kurie viel zu schaffen gegeben und hatte Frankreich, der älteste Sohn der Kirche, seine pragmatische Sanktion, den Beginn einer reinlichen Scheidung zwischen kirchlichem Staat und weltlichem Staat, durchgesetzt. Das war der wahre Kampf im Staate. Und wer das begreift, muss einsehen, dass Rom auf der ganzen Linie geschlagen wurde. Die katholischen Staaten haben sich nach und nach nicht minder emanzipiert als die anderen. Allerdings haben sie in Bezug auf die Investitur der Bischöfe u. s. w. wichtige Privilegien preisgegeben, doch nicht alle, und dafür haben die meisten die religiöse

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 676. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/155>, abgerufen am 20.04.2024.