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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Einleitendes.
demokratisch. Ausserdem regten sich in jener von Goethe aristo-
kratisch genannten Zeit andere, echt demokratische Gewalten. Als
freie Männer waren die Germanen in die Geschichte eingetreten, und
lange Jahrhunderte hindurch besassen ihre Könige ihnen gegenüber
weit weniger Gewalt als über ihre besiegten Unterthanen aus dem
römischen Länderkomplex. Diese Rechte zu schmälern und bald
abzuschaffen, dazu genügte der doppelte Einfluss Roms: als Kirche
und als Gesetz.1) Doch ganz unterdrückt konnte der Drang nach
Freiheit nie werden, in jedem Jahrhundert sehen wir ihn sich regen,
einmal im Norden, ein anderes Mal im Süden, bald als Freiheit zu
denken und zu glauben, bald als einen Kampf um städtische Privi-
legien, um Handel und Wandel, um die Wahrung von Standesrechten,
oder als Empörung gegen solche, bald auch in der Form von Ein-
fällen noch ungebundener Völker in die halb-organisierte Masse der
nachrömischen Reiche. Dass dagegen dieser Zustand eines allseitigen
Kampfes Anarchie bedeute, darin müssen wir Goethe unbedingt
beipflichten. An Gerechtigkeit zu denken, hatte damals selten ein
vereinzelter grosser Mann die Zeit; im Übrigen verfocht jede Gewalt
rücksichtslos ihre eigenen Ziele, ohne die Rechte Anderer in
Betracht zu ziehen: das war eine Existenzbedingung. Moralische
Bedenken dürfen hier unser Urteil nicht beeinflussen: je rücksichts-
loser eine Gewalt sich äusserte, um so lebensfähiger erwies sie sich.
Beethoven sagt einmal: "Kraft ist die Moral der Menschen, die sich
vor Andern auszeichnen"; Kraft war ebenfalls die Moral jener Epoche
der ersten wilden Gährung. Erst als die Bildung von Nationalitäten
deutlich zu werden begann, als in Kunst, Wissenschaft und Philo-
sophie der Mensch seiner selbst wieder bewusst wurde, als er durch
Organisation zur Arbeit, durch die Bethätigung seiner erfinderischen
Gaben, durch das Erfassen idealer Ziele von Neuem in den Zauber-
kreis echter Kultur, "in das Tageslicht des Lebens" trat, erst dann
fing die Anarchie an zu weichen, oder vielmehr sie ward zu Gunsten
einer endgültige Gestalt annehmenden neuen Welt und neuen Kultur
nach und nach eingedämmt. Dieser Vorgang dauert noch heute fort,
wo wir in jeder Beziehung in einer "mittleren Zeit" leben;2) doch ist

1) Deutlicher als in allgemeinen Geschichtswerken, weil mit anschaulicher
Ausführlichkeit, in Savigny's: Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter zu ver-
folgen; siehe namentlich im vierten Kapitel des ersten Bandes die Abschnitte über
die Freien und die Grafen.
2) Siehe S. 11.

Einleitendes.
demokratisch. Ausserdem regten sich in jener von Goethe aristo-
kratisch genannten Zeit andere, echt demokratische Gewalten. Als
freie Männer waren die Germanen in die Geschichte eingetreten, und
lange Jahrhunderte hindurch besassen ihre Könige ihnen gegenüber
weit weniger Gewalt als über ihre besiegten Unterthanen aus dem
römischen Länderkomplex. Diese Rechte zu schmälern und bald
abzuschaffen, dazu genügte der doppelte Einfluss Roms: als Kirche
und als Gesetz.1) Doch ganz unterdrückt konnte der Drang nach
Freiheit nie werden, in jedem Jahrhundert sehen wir ihn sich regen,
einmal im Norden, ein anderes Mal im Süden, bald als Freiheit zu
denken und zu glauben, bald als einen Kampf um städtische Privi-
legien, um Handel und Wandel, um die Wahrung von Standesrechten,
oder als Empörung gegen solche, bald auch in der Form von Ein-
fällen noch ungebundener Völker in die halb-organisierte Masse der
nachrömischen Reiche. Dass dagegen dieser Zustand eines allseitigen
Kampfes Anarchie bedeute, darin müssen wir Goethe unbedingt
beipflichten. An Gerechtigkeit zu denken, hatte damals selten ein
vereinzelter grosser Mann die Zeit; im Übrigen verfocht jede Gewalt
rücksichtslos ihre eigenen Ziele, ohne die Rechte Anderer in
Betracht zu ziehen: das war eine Existenzbedingung. Moralische
Bedenken dürfen hier unser Urteil nicht beeinflussen: je rücksichts-
loser eine Gewalt sich äusserte, um so lebensfähiger erwies sie sich.
Beethoven sagt einmal: »Kraft ist die Moral der Menschen, die sich
vor Andern auszeichnen«; Kraft war ebenfalls die Moral jener Epoche
der ersten wilden Gährung. Erst als die Bildung von Nationalitäten
deutlich zu werden begann, als in Kunst, Wissenschaft und Philo-
sophie der Mensch seiner selbst wieder bewusst wurde, als er durch
Organisation zur Arbeit, durch die Bethätigung seiner erfinderischen
Gaben, durch das Erfassen idealer Ziele von Neuem in den Zauber-
kreis echter Kultur, »in das Tageslicht des Lebens« trat, erst dann
fing die Anarchie an zu weichen, oder vielmehr sie ward zu Gunsten
einer endgültige Gestalt annehmenden neuen Welt und neuen Kultur
nach und nach eingedämmt. Dieser Vorgang dauert noch heute fort,
wo wir in jeder Beziehung in einer »mittleren Zeit« leben;2) doch ist

1) Deutlicher als in allgemeinen Geschichtswerken, weil mit anschaulicher
Ausführlichkeit, in Savigny’s: Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter zu ver-
folgen; siehe namentlich im vierten Kapitel des ersten Bandes die Abschnitte über
die Freien und die Grafen.
2) Siehe S. 11.
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[537/0016] Einleitendes. demokratisch. Ausserdem regten sich in jener von Goethe aristo- kratisch genannten Zeit andere, echt demokratische Gewalten. Als freie Männer waren die Germanen in die Geschichte eingetreten, und lange Jahrhunderte hindurch besassen ihre Könige ihnen gegenüber weit weniger Gewalt als über ihre besiegten Unterthanen aus dem römischen Länderkomplex. Diese Rechte zu schmälern und bald abzuschaffen, dazu genügte der doppelte Einfluss Roms: als Kirche und als Gesetz. 1) Doch ganz unterdrückt konnte der Drang nach Freiheit nie werden, in jedem Jahrhundert sehen wir ihn sich regen, einmal im Norden, ein anderes Mal im Süden, bald als Freiheit zu denken und zu glauben, bald als einen Kampf um städtische Privi- legien, um Handel und Wandel, um die Wahrung von Standesrechten, oder als Empörung gegen solche, bald auch in der Form von Ein- fällen noch ungebundener Völker in die halb-organisierte Masse der nachrömischen Reiche. Dass dagegen dieser Zustand eines allseitigen Kampfes Anarchie bedeute, darin müssen wir Goethe unbedingt beipflichten. An Gerechtigkeit zu denken, hatte damals selten ein vereinzelter grosser Mann die Zeit; im Übrigen verfocht jede Gewalt rücksichtslos ihre eigenen Ziele, ohne die Rechte Anderer in Betracht zu ziehen: das war eine Existenzbedingung. Moralische Bedenken dürfen hier unser Urteil nicht beeinflussen: je rücksichts- loser eine Gewalt sich äusserte, um so lebensfähiger erwies sie sich. Beethoven sagt einmal: »Kraft ist die Moral der Menschen, die sich vor Andern auszeichnen«; Kraft war ebenfalls die Moral jener Epoche der ersten wilden Gährung. Erst als die Bildung von Nationalitäten deutlich zu werden begann, als in Kunst, Wissenschaft und Philo- sophie der Mensch seiner selbst wieder bewusst wurde, als er durch Organisation zur Arbeit, durch die Bethätigung seiner erfinderischen Gaben, durch das Erfassen idealer Ziele von Neuem in den Zauber- kreis echter Kultur, »in das Tageslicht des Lebens« trat, erst dann fing die Anarchie an zu weichen, oder vielmehr sie ward zu Gunsten einer endgültige Gestalt annehmenden neuen Welt und neuen Kultur nach und nach eingedämmt. Dieser Vorgang dauert noch heute fort, wo wir in jeder Beziehung in einer »mittleren Zeit« leben; 2) doch ist 1) Deutlicher als in allgemeinen Geschichtswerken, weil mit anschaulicher Ausführlichkeit, in Savigny’s: Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter zu ver- folgen; siehe namentlich im vierten Kapitel des ersten Bandes die Abschnitte über die Freien und die Grafen. 2) Siehe S. 11.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 537. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/16>, abgerufen am 29.03.2024.