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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
Grosse in dem, was er wollte, sich manchen kindlichen Illusionen hin-
gegeben und auch manche verhängnisvolle Fehler begangen; in dem, was
er nicht wollte, hat er überall das Richtige getroffen: dem Papst keine
Eingriffe gestatten, den Bildern keine Verehrung erweisen, dem Adel
keine Privilegien gewähren, u. s. w. In seinem Wollen war Karl vielfach
ein Universalist und Absolutist, in seinem Nichtwollen bewährte er sich
als Germane. Genau dasselbe war uns bei Dante aufgefallen (S. 655 fg.):
sein politisches Zukunftsideal war ein Hirngespinnst, seine energische
Abweisung aller zeitlichen Ansprüche der Kirche eine weithinwirkende
Wohlthat.

Und so sehen wir denn, dass es hier, im Staate, wie in allen
menschlichen Dingen, vor Allem auf die Grundeigenschaften der
Gesinnung ankommt, nicht der Erkenntnis. Die Gesinnung ist
das Steuerruder, sie giebt die Richtung, und mit der Richtung zugleich
das Ziel -- auch wenn dieses lange unsichtbar bleiben sollte.1) Der
Kampf im Staate war nun, wie ich gezeigt zu haben hoffe, in aller-
erster Reihe ein derartiger Kampf zwischen zwei Richtungen, d. h.
also zwischen zwei Steuermännern. Sobald der eine das Steuerruder
endgültig fest gefasst hatte, war die fernere Entwickelung zu immer
grösserer Freiheit, zu immer ausgesprochenerem Nationalismus und
Individualismus natürlich und unausbleiblich -- ebenso unausbleiblich
wie die umgekehrte Entwickelung des Caesarismus und Papismus zu
immer geringerer Freiheit.

Nichts ist absolut auf dieser Welt; auch Freiheit und Unfreiheit
bezeichnen nur zwei Richtungen, und weder die Person noch die
Nation kann allein und gänzlich unabhängig dastehen, gehören sie
doch zu einem Ganzen, in welchem jedes Einzelne stützt und gestützt
wird. Doch am Abend jenes 15. Juni 1215, an welchem die Magna
Charta
das Licht der Welt erblickte -- durch das "wilde Wollen"
germanischer Männer in diesem einen einzigen Tage aufgesetzt, durch-
gesprochen, verhandelt und unterschrieben -- da war für ganz Europa

Einbilden könnt ihr es euch, willkürlich wähnen, aber nicht wissen. Nur was das
Volk vollbracht hat, das könnt ihr wissen, bis dahin genüge es euch, ganz deut-
lich zu erkennen, was ihr nicht wollt, zu verneinen, was verneinenswert
ist, zu vernichten, was vernichtenswert ist.
" (Nachgelassene Schriften,
1895, S. 118.)
1) Die Wurzel des Wortes "Sinn" bedeutet eine Reise, ein Weg, ein Gehen;
"Gesinnung" bedeutet folglich eine Richtung, nach welcher zu der Mensch sich
bewegt.

Der Kampf.
Grosse in dem, was er wollte, sich manchen kindlichen Illusionen hin-
gegeben und auch manche verhängnisvolle Fehler begangen; in dem, was
er nicht wollte, hat er überall das Richtige getroffen: dem Papst keine
Eingriffe gestatten, den Bildern keine Verehrung erweisen, dem Adel
keine Privilegien gewähren, u. s. w. In seinem Wollen war Karl vielfach
ein Universalist und Absolutist, in seinem Nichtwollen bewährte er sich
als Germane. Genau dasselbe war uns bei Dante aufgefallen (S. 655 fg.):
sein politisches Zukunftsideal war ein Hirngespinnst, seine energische
Abweisung aller zeitlichen Ansprüche der Kirche eine weithinwirkende
Wohlthat.

Und so sehen wir denn, dass es hier, im Staate, wie in allen
menschlichen Dingen, vor Allem auf die Grundeigenschaften der
Gesinnung ankommt, nicht der Erkenntnis. Die Gesinnung ist
das Steuerruder, sie giebt die Richtung, und mit der Richtung zugleich
das Ziel — auch wenn dieses lange unsichtbar bleiben sollte.1) Der
Kampf im Staate war nun, wie ich gezeigt zu haben hoffe, in aller-
erster Reihe ein derartiger Kampf zwischen zwei Richtungen, d. h.
also zwischen zwei Steuermännern. Sobald der eine das Steuerruder
endgültig fest gefasst hatte, war die fernere Entwickelung zu immer
grösserer Freiheit, zu immer ausgesprochenerem Nationalismus und
Individualismus natürlich und unausbleiblich — ebenso unausbleiblich
wie die umgekehrte Entwickelung des Caesarismus und Papismus zu
immer geringerer Freiheit.

Nichts ist absolut auf dieser Welt; auch Freiheit und Unfreiheit
bezeichnen nur zwei Richtungen, und weder die Person noch die
Nation kann allein und gänzlich unabhängig dastehen, gehören sie
doch zu einem Ganzen, in welchem jedes Einzelne stützt und gestützt
wird. Doch am Abend jenes 15. Juni 1215, an welchem die Magna
Charta
das Licht der Welt erblickte — durch das »wilde Wollen«
germanischer Männer in diesem einen einzigen Tage aufgesetzt, durch-
gesprochen, verhandelt und unterschrieben — da war für ganz Europa

Einbilden könnt ihr es euch, willkürlich wähnen, aber nicht wissen. Nur was das
Volk vollbracht hat, das könnt ihr wissen, bis dahin genüge es euch, ganz deut-
lich zu erkennen, was ihr nicht wollt, zu verneinen, was verneinenswert
ist, zu vernichten, was vernichtenswert ist.
« (Nachgelassene Schriften,
1895, S. 118.)
1) Die Wurzel des Wortes »Sinn« bedeutet eine Reise, ein Weg, ein Gehen;
»Gesinnung« bedeutet folglich eine Richtung, nach welcher zu der Mensch sich
bewegt.
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[686/0165] Der Kampf. Grosse in dem, was er wollte, sich manchen kindlichen Illusionen hin- gegeben und auch manche verhängnisvolle Fehler begangen; in dem, was er nicht wollte, hat er überall das Richtige getroffen: dem Papst keine Eingriffe gestatten, den Bildern keine Verehrung erweisen, dem Adel keine Privilegien gewähren, u. s. w. In seinem Wollen war Karl vielfach ein Universalist und Absolutist, in seinem Nichtwollen bewährte er sich als Germane. Genau dasselbe war uns bei Dante aufgefallen (S. 655 fg.): sein politisches Zukunftsideal war ein Hirngespinnst, seine energische Abweisung aller zeitlichen Ansprüche der Kirche eine weithinwirkende Wohlthat. Und so sehen wir denn, dass es hier, im Staate, wie in allen menschlichen Dingen, vor Allem auf die Grundeigenschaften der Gesinnung ankommt, nicht der Erkenntnis. Die Gesinnung ist das Steuerruder, sie giebt die Richtung, und mit der Richtung zugleich das Ziel — auch wenn dieses lange unsichtbar bleiben sollte. 1) Der Kampf im Staate war nun, wie ich gezeigt zu haben hoffe, in aller- erster Reihe ein derartiger Kampf zwischen zwei Richtungen, d. h. also zwischen zwei Steuermännern. Sobald der eine das Steuerruder endgültig fest gefasst hatte, war die fernere Entwickelung zu immer grösserer Freiheit, zu immer ausgesprochenerem Nationalismus und Individualismus natürlich und unausbleiblich — ebenso unausbleiblich wie die umgekehrte Entwickelung des Caesarismus und Papismus zu immer geringerer Freiheit. Nichts ist absolut auf dieser Welt; auch Freiheit und Unfreiheit bezeichnen nur zwei Richtungen, und weder die Person noch die Nation kann allein und gänzlich unabhängig dastehen, gehören sie doch zu einem Ganzen, in welchem jedes Einzelne stützt und gestützt wird. Doch am Abend jenes 15. Juni 1215, an welchem die Magna Charta das Licht der Welt erblickte — durch das »wilde Wollen« germanischer Männer in diesem einen einzigen Tage aufgesetzt, durch- gesprochen, verhandelt und unterschrieben — da war für ganz Europa 1) 1) Die Wurzel des Wortes »Sinn« bedeutet eine Reise, ein Weg, ein Gehen; »Gesinnung« bedeutet folglich eine Richtung, nach welcher zu der Mensch sich bewegt. 1) Einbilden könnt ihr es euch, willkürlich wähnen, aber nicht wissen. Nur was das Volk vollbracht hat, das könnt ihr wissen, bis dahin genüge es euch, ganz deut- lich zu erkennen, was ihr nicht wollt, zu verneinen, was verneinenswert ist, zu vernichten, was vernichtenswert ist.« (Nachgelassene Schriften, 1895, S. 118.)

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 686. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/165>, abgerufen am 25.04.2024.