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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur.
machen alles aus, was wir über die Menschheit wissen; an sie müssen
wir uns halten. Das hellenische Volk ist z. B. ein derartiges Konkretum.
Ob die Hellenen mit den Völkern Italia's, mit den Kelten und Indo-
eraniern verwandt waren, ob die Verschiedenheit ihrer Stämme, die
wir schon in den ältesten Zeiten wahrnehmen, einer verschiedengradigen
Vermischung von Menschen getrennten Ursprungs entspricht oder die
Folge einer durch geographische Bedingungen bewirkten Differenzierung
ist, u. s. w., das alles sind vielumstrittene Fragen, deren einstige Be-
antwortung -- selbst wenn sie mit Sicherheit erfolgen sollte -- nicht
das Geringste ändern würde an der grossen, unbestreitbaren Thatsache
des Hellenentums mit seiner besonderen, keiner anderen gleichen Sprache,
seinen besonderen Tugenden und Untugenden, seiner fabelhaften Be-
gabung und den eigentümlichen Beschränkungen seines Geistes, seiner
Versatilität, seinem industriellen Fleisse, seiner überschlauen Geschäfts-
gebahrung, seiner philosophischen Musse, seiner himmelstürmenden
Kraft der Phantasie. Eine solche Thatsache der Geschichte ist durchaus
konkret, handgreiflich, sinnfällig und zugleich unerschöpflich. Eigentlich
ist es recht unbescheiden von uns, dass wir uns mit einem derartigen
Unerschöpflichen nicht zufrieden geben; albern aber ist es, wenn wir
diese Urphänomene (um wiederum mit Goethe zu reden) nicht auf ihren
Wert schätzen, sondern durch Erweiterung sie zu "erklären" wähnen,
wo wir sie in Wirklichkeit nur auflösend verdünnen, bis das Auge sie
nicht mehr gewahrt. So z. B. wenn man die künstlerischen Gross-
thaten der Hellenen auf phönizische und andere pseudosemitische
Anregungen zurückführt und sich einbildet, damit zur Erläuterung
dieses beispiellosen Mirakels etwas beigetragen zu haben; das ewig
unerschöpfliche und unerklärliche Urphänomen des Hellenentums
wird vielmehr durch diese Thatsache nur erweitert, in keiner Weise
erläutert. Denn die Phönizier trugen die babylonischen und ägyptischen
Kulturelemente überall hin; warum ging denn die Saat nur dort auf,
wo Hellenen sich niedergelassen hatten? und warum namentlich bei
jenen Phöniziern selber nicht, welche doch auf einer höheren Bildungs-
stufe gestanden haben müssen, als die Leute, denen sie -- angeblich --
die Anfänge der Bildung erst übermittelten?

Auf diesem Gebiete schwimmt man förmlich in Trugschlüssen,
indem man -- wie Thomas Reid spottet -- den Tag durch die Nacht
"erklärt", weil der eine auf die andere folgt! An Antworten fehlt es
Denjenigen nie, welche das grosse mittlere Problem des Daseins -- die
Existenz des individuellen Wesens -- niemals begriffen, d. h. als un-

Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur.
machen alles aus, was wir über die Menschheit wissen; an sie müssen
wir uns halten. Das hellenische Volk ist z. B. ein derartiges Konkretum.
Ob die Hellenen mit den Völkern Italia’s, mit den Kelten und Indo-
eraniern verwandt waren, ob die Verschiedenheit ihrer Stämme, die
wir schon in den ältesten Zeiten wahrnehmen, einer verschiedengradigen
Vermischung von Menschen getrennten Ursprungs entspricht oder die
Folge einer durch geographische Bedingungen bewirkten Differenzierung
ist, u. s. w., das alles sind vielumstrittene Fragen, deren einstige Be-
antwortung — selbst wenn sie mit Sicherheit erfolgen sollte — nicht
das Geringste ändern würde an der grossen, unbestreitbaren Thatsache
des Hellenentums mit seiner besonderen, keiner anderen gleichen Sprache,
seinen besonderen Tugenden und Untugenden, seiner fabelhaften Be-
gabung und den eigentümlichen Beschränkungen seines Geistes, seiner
Versatilität, seinem industriellen Fleisse, seiner überschlauen Geschäfts-
gebahrung, seiner philosophischen Musse, seiner himmelstürmenden
Kraft der Phantasie. Eine solche Thatsache der Geschichte ist durchaus
konkret, handgreiflich, sinnfällig und zugleich unerschöpflich. Eigentlich
ist es recht unbescheiden von uns, dass wir uns mit einem derartigen
Unerschöpflichen nicht zufrieden geben; albern aber ist es, wenn wir
diese Urphänomene (um wiederum mit Goethe zu reden) nicht auf ihren
Wert schätzen, sondern durch Erweiterung sie zu »erklären« wähnen,
wo wir sie in Wirklichkeit nur auflösend verdünnen, bis das Auge sie
nicht mehr gewahrt. So z. B. wenn man die künstlerischen Gross-
thaten der Hellenen auf phönizische und andere pseudosemitische
Anregungen zurückführt und sich einbildet, damit zur Erläuterung
dieses beispiellosen Mirakels etwas beigetragen zu haben; das ewig
unerschöpfliche und unerklärliche Urphänomen des Hellenentums
wird vielmehr durch diese Thatsache nur erweitert, in keiner Weise
erläutert. Denn die Phönizier trugen die babylonischen und ägyptischen
Kulturelemente überall hin; warum ging denn die Saat nur dort auf,
wo Hellenen sich niedergelassen hatten? und warum namentlich bei
jenen Phöniziern selber nicht, welche doch auf einer höheren Bildungs-
stufe gestanden haben müssen, als die Leute, denen sie — angeblich —
die Anfänge der Bildung erst übermittelten?

Auf diesem Gebiete schwimmt man förmlich in Trugschlüssen,
indem man — wie Thomas Reid spottet — den Tag durch die Nacht
»erklärt«, weil der eine auf die andere folgt! An Antworten fehlt es
Denjenigen nie, welche das grosse mittlere Problem des Daseins — die
Existenz des individuellen Wesens — niemals begriffen, d. h. als un-

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[705/0184] Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur. machen alles aus, was wir über die Menschheit wissen; an sie müssen wir uns halten. Das hellenische Volk ist z. B. ein derartiges Konkretum. Ob die Hellenen mit den Völkern Italia’s, mit den Kelten und Indo- eraniern verwandt waren, ob die Verschiedenheit ihrer Stämme, die wir schon in den ältesten Zeiten wahrnehmen, einer verschiedengradigen Vermischung von Menschen getrennten Ursprungs entspricht oder die Folge einer durch geographische Bedingungen bewirkten Differenzierung ist, u. s. w., das alles sind vielumstrittene Fragen, deren einstige Be- antwortung — selbst wenn sie mit Sicherheit erfolgen sollte — nicht das Geringste ändern würde an der grossen, unbestreitbaren Thatsache des Hellenentums mit seiner besonderen, keiner anderen gleichen Sprache, seinen besonderen Tugenden und Untugenden, seiner fabelhaften Be- gabung und den eigentümlichen Beschränkungen seines Geistes, seiner Versatilität, seinem industriellen Fleisse, seiner überschlauen Geschäfts- gebahrung, seiner philosophischen Musse, seiner himmelstürmenden Kraft der Phantasie. Eine solche Thatsache der Geschichte ist durchaus konkret, handgreiflich, sinnfällig und zugleich unerschöpflich. Eigentlich ist es recht unbescheiden von uns, dass wir uns mit einem derartigen Unerschöpflichen nicht zufrieden geben; albern aber ist es, wenn wir diese Urphänomene (um wiederum mit Goethe zu reden) nicht auf ihren Wert schätzen, sondern durch Erweiterung sie zu »erklären« wähnen, wo wir sie in Wirklichkeit nur auflösend verdünnen, bis das Auge sie nicht mehr gewahrt. So z. B. wenn man die künstlerischen Gross- thaten der Hellenen auf phönizische und andere pseudosemitische Anregungen zurückführt und sich einbildet, damit zur Erläuterung dieses beispiellosen Mirakels etwas beigetragen zu haben; das ewig unerschöpfliche und unerklärliche Urphänomen des Hellenentums wird vielmehr durch diese Thatsache nur erweitert, in keiner Weise erläutert. Denn die Phönizier trugen die babylonischen und ägyptischen Kulturelemente überall hin; warum ging denn die Saat nur dort auf, wo Hellenen sich niedergelassen hatten? und warum namentlich bei jenen Phöniziern selber nicht, welche doch auf einer höheren Bildungs- stufe gestanden haben müssen, als die Leute, denen sie — angeblich — die Anfänge der Bildung erst übermittelten? Auf diesem Gebiete schwimmt man förmlich in Trugschlüssen, indem man — wie Thomas Reid spottet — den Tag durch die Nacht »erklärt«, weil der eine auf die andere folgt! An Antworten fehlt es Denjenigen nie, welche das grosse mittlere Problem des Daseins — die Existenz des individuellen Wesens — niemals begriffen, d. h. als un-

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 705. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/184>, abgerufen am 24.04.2024.