Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Entstehung einer neuen Welt.
des Zusammenhanges mit luftigen Scheinbrücken; wir bereichern aber
unsere Vorstellungswelt durch sinngemässe Gliederung, und, indem wir
offenbar Verwandtes verbinden, lernen wir es zugleich von dem Un-
verwandten scheiden und bereiten die Möglichkeit zu ferneren Einsichten
und zu immer neuen Entdeckungen. Sobald wir aber das Verfahren
umkehren und einen hypothetischen Arier als Ausgangspunkt nehmen --
einen Menschen, über den wir nicht das Geringste wissen, den wir
aus den fernsten, unverständlichsten Sagen herauskonstruieren, aus
äusserst schwierig zu deutenden sprachlichen Indizien zusammenleimen,
einen Menschen, den ein Jeder, wie eine Fee, mit allen Gaben aus-
statten kann, die ihm belieben -- so schweben wir in der Luft und
fällen notgedrungen ein schiefes Urteil nach dem andern, wovon wir
in Graf Gobineau's: Inegalite des races humaines ein vortreffliches
Beispiel besitzen. Gobineau und Buckle sind die zwei Pole einer gleich
falschen Methode: der Eine bohrt sich maulwurfartig in die dunkle Erde
hinein und wähnt aus dem Boden die Blumen zu erklären -- ungeachtet
Rose und Distel nebeneinander stehen, der Andere entschwebt dem
Boden des Thatsächlichen und erlaubt seiner Phantasie einen so hohen
Flug zu nehmen, dass sie Alles in der verzerrten Perspektive der Vogel-
schau erblickt und sich gezwungen sieht, die hellenische Kunst als ein
Symptom der Dekadenz zu deuten und das Räuberhandwerk des
hypothetischen Urariers als die edelste Bethätigung des Menschentums
zu preisen!

Der Begriff "Menschheit" ist zunächst nichts weiter als ein sprach-
licher Notbehelf, ein collectivum, durch welches das Charakteristische
am Menschen, nämlich seine Persönlichkeit, verwischt und der rote
Faden der Geschichte -- die verschiedenen Individualitäten der Völker
und Nationen -- unsichtbar gemacht wird. Ich gebe zu, auch der Be-
griff Menschheit kann zu einem positiven Inhalt gelangen, doch nur
unter der Bedingung, dass die konkreten Thatsachen der getrennten
Volksindividualitäten zu Grunde gelegt werden: diese werden dann
in allgemeinere Rassenbegriffe unterschieden und verbunden, die all-
gemeineren wahrscheinlich noch einmal unter einander ähnlich ge-
sichtet, und was dann ganz hoch oben in den Wolken schwebt, dem
unbewaffneten Auge kaum sichtbar, ist "die Menschheit". Diese
Menschheit werden wir aber bei der Beurteilung menschlicher Dinge
nie zum Ausgangspunkt nehmen: denn jede That auf Erden geht
von bestimmten Menschen aus, nicht von unbestimmten; wir werden
sie auch nie zum Endpunkt nehmen: denn die individuelle Begrenzung

Die Entstehung einer neuen Welt.
des Zusammenhanges mit luftigen Scheinbrücken; wir bereichern aber
unsere Vorstellungswelt durch sinngemässe Gliederung, und, indem wir
offenbar Verwandtes verbinden, lernen wir es zugleich von dem Un-
verwandten scheiden und bereiten die Möglichkeit zu ferneren Einsichten
und zu immer neuen Entdeckungen. Sobald wir aber das Verfahren
umkehren und einen hypothetischen Arier als Ausgangspunkt nehmen —
einen Menschen, über den wir nicht das Geringste wissen, den wir
aus den fernsten, unverständlichsten Sagen herauskonstruieren, aus
äusserst schwierig zu deutenden sprachlichen Indizien zusammenleimen,
einen Menschen, den ein Jeder, wie eine Fee, mit allen Gaben aus-
statten kann, die ihm belieben — so schweben wir in der Luft und
fällen notgedrungen ein schiefes Urteil nach dem andern, wovon wir
in Graf Gobineau’s: Inégalité des races humaines ein vortreffliches
Beispiel besitzen. Gobineau und Buckle sind die zwei Pole einer gleich
falschen Methode: der Eine bohrt sich maulwurfartig in die dunkle Erde
hinein und wähnt aus dem Boden die Blumen zu erklären — ungeachtet
Rose und Distel nebeneinander stehen, der Andere entschwebt dem
Boden des Thatsächlichen und erlaubt seiner Phantasie einen so hohen
Flug zu nehmen, dass sie Alles in der verzerrten Perspektive der Vogel-
schau erblickt und sich gezwungen sieht, die hellenische Kunst als ein
Symptom der Dekadenz zu deuten und das Räuberhandwerk des
hypothetischen Urariers als die edelste Bethätigung des Menschentums
zu preisen!

Der Begriff »Menschheit« ist zunächst nichts weiter als ein sprach-
licher Notbehelf, ein collectivum, durch welches das Charakteristische
am Menschen, nämlich seine Persönlichkeit, verwischt und der rote
Faden der Geschichte — die verschiedenen Individualitäten der Völker
und Nationen — unsichtbar gemacht wird. Ich gebe zu, auch der Be-
griff Menschheit kann zu einem positiven Inhalt gelangen, doch nur
unter der Bedingung, dass die konkreten Thatsachen der getrennten
Volksindividualitäten zu Grunde gelegt werden: diese werden dann
in allgemeinere Rassenbegriffe unterschieden und verbunden, die all-
gemeineren wahrscheinlich noch einmal unter einander ähnlich ge-
sichtet, und was dann ganz hoch oben in den Wolken schwebt, dem
unbewaffneten Auge kaum sichtbar, ist »die Menschheit«. Diese
Menschheit werden wir aber bei der Beurteilung menschlicher Dinge
nie zum Ausgangspunkt nehmen: denn jede That auf Erden geht
von bestimmten Menschen aus, nicht von unbestimmten; wir werden
sie auch nie zum Endpunkt nehmen: denn die individuelle Begrenzung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0187" n="708"/><fw place="top" type="header">Die Entstehung einer neuen Welt.</fw><lb/>
des Zusammenhanges mit luftigen Scheinbrücken; wir bereichern aber<lb/>
unsere Vorstellungswelt durch sinngemässe Gliederung, und, indem wir<lb/>
offenbar Verwandtes verbinden, lernen wir es zugleich von dem Un-<lb/>
verwandten scheiden und bereiten die Möglichkeit zu ferneren Einsichten<lb/>
und zu immer neuen Entdeckungen. Sobald wir aber das Verfahren<lb/>
umkehren und einen hypothetischen Arier als Ausgangspunkt nehmen &#x2014;<lb/>
einen Menschen, über den wir nicht das Geringste wissen, den wir<lb/>
aus den fernsten, unverständlichsten Sagen herauskonstruieren, aus<lb/>
äusserst schwierig zu deutenden sprachlichen Indizien zusammenleimen,<lb/>
einen Menschen, den ein Jeder, wie eine Fee, mit allen Gaben aus-<lb/>
statten kann, die ihm belieben &#x2014; so schweben wir in der Luft und<lb/>
fällen notgedrungen ein schiefes Urteil nach dem andern, wovon wir<lb/>
in Graf Gobineau&#x2019;s: <hi rendition="#i">Inégalité des races humaines</hi> ein vortreffliches<lb/>
Beispiel besitzen. Gobineau und Buckle sind die zwei Pole einer gleich<lb/>
falschen Methode: der Eine bohrt sich maulwurfartig in die dunkle Erde<lb/>
hinein und wähnt aus dem Boden die Blumen zu erklären &#x2014; ungeachtet<lb/>
Rose und Distel nebeneinander stehen, der Andere entschwebt dem<lb/>
Boden des Thatsächlichen und erlaubt seiner Phantasie einen so hohen<lb/>
Flug zu nehmen, dass sie Alles in der verzerrten Perspektive der Vogel-<lb/>
schau erblickt und sich gezwungen sieht, die hellenische Kunst als ein<lb/>
Symptom der Dekadenz zu deuten und das Räuberhandwerk des<lb/>
hypothetischen Urariers als die edelste Bethätigung des Menschentums<lb/>
zu preisen!</p><lb/>
            <p>Der Begriff »Menschheit« ist zunächst nichts weiter als ein sprach-<lb/>
licher Notbehelf, ein <hi rendition="#i">collectivum</hi>, durch welches das Charakteristische<lb/>
am Menschen, nämlich seine Persönlichkeit, verwischt und der rote<lb/>
Faden der Geschichte &#x2014; die verschiedenen Individualitäten der Völker<lb/>
und Nationen &#x2014; unsichtbar gemacht wird. Ich gebe zu, auch der Be-<lb/>
griff Menschheit kann zu einem positiven Inhalt gelangen, doch nur<lb/>
unter der Bedingung, dass die konkreten Thatsachen der getrennten<lb/>
Volksindividualitäten zu Grunde gelegt werden: diese werden dann<lb/>
in allgemeinere Rassenbegriffe unterschieden und verbunden, die all-<lb/>
gemeineren wahrscheinlich noch einmal unter einander ähnlich ge-<lb/>
sichtet, und was dann ganz hoch oben in den Wolken schwebt, dem<lb/>
unbewaffneten Auge kaum sichtbar, ist »die Menschheit«. Diese<lb/>
Menschheit werden wir aber bei der Beurteilung menschlicher Dinge<lb/>
nie zum Ausgangspunkt nehmen: denn jede That auf Erden geht<lb/>
von bestimmten Menschen aus, nicht von unbestimmten; wir werden<lb/>
sie auch nie zum Endpunkt nehmen: denn die individuelle Begrenzung<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[708/0187] Die Entstehung einer neuen Welt. des Zusammenhanges mit luftigen Scheinbrücken; wir bereichern aber unsere Vorstellungswelt durch sinngemässe Gliederung, und, indem wir offenbar Verwandtes verbinden, lernen wir es zugleich von dem Un- verwandten scheiden und bereiten die Möglichkeit zu ferneren Einsichten und zu immer neuen Entdeckungen. Sobald wir aber das Verfahren umkehren und einen hypothetischen Arier als Ausgangspunkt nehmen — einen Menschen, über den wir nicht das Geringste wissen, den wir aus den fernsten, unverständlichsten Sagen herauskonstruieren, aus äusserst schwierig zu deutenden sprachlichen Indizien zusammenleimen, einen Menschen, den ein Jeder, wie eine Fee, mit allen Gaben aus- statten kann, die ihm belieben — so schweben wir in der Luft und fällen notgedrungen ein schiefes Urteil nach dem andern, wovon wir in Graf Gobineau’s: Inégalité des races humaines ein vortreffliches Beispiel besitzen. Gobineau und Buckle sind die zwei Pole einer gleich falschen Methode: der Eine bohrt sich maulwurfartig in die dunkle Erde hinein und wähnt aus dem Boden die Blumen zu erklären — ungeachtet Rose und Distel nebeneinander stehen, der Andere entschwebt dem Boden des Thatsächlichen und erlaubt seiner Phantasie einen so hohen Flug zu nehmen, dass sie Alles in der verzerrten Perspektive der Vogel- schau erblickt und sich gezwungen sieht, die hellenische Kunst als ein Symptom der Dekadenz zu deuten und das Räuberhandwerk des hypothetischen Urariers als die edelste Bethätigung des Menschentums zu preisen! Der Begriff »Menschheit« ist zunächst nichts weiter als ein sprach- licher Notbehelf, ein collectivum, durch welches das Charakteristische am Menschen, nämlich seine Persönlichkeit, verwischt und der rote Faden der Geschichte — die verschiedenen Individualitäten der Völker und Nationen — unsichtbar gemacht wird. Ich gebe zu, auch der Be- griff Menschheit kann zu einem positiven Inhalt gelangen, doch nur unter der Bedingung, dass die konkreten Thatsachen der getrennten Volksindividualitäten zu Grunde gelegt werden: diese werden dann in allgemeinere Rassenbegriffe unterschieden und verbunden, die all- gemeineren wahrscheinlich noch einmal unter einander ähnlich ge- sichtet, und was dann ganz hoch oben in den Wolken schwebt, dem unbewaffneten Auge kaum sichtbar, ist »die Menschheit«. Diese Menschheit werden wir aber bei der Beurteilung menschlicher Dinge nie zum Ausgangspunkt nehmen: denn jede That auf Erden geht von bestimmten Menschen aus, nicht von unbestimmten; wir werden sie auch nie zum Endpunkt nehmen: denn die individuelle Begrenzung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/187
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 708. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/187>, abgerufen am 23.04.2024.