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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur.
schliesst die Möglichkeit eines Allgemeingültigen aus. Schon Zoroaster
hatte die weisen Worte gesprochen: "Weder an Gedanken, noch an
Begierden, noch an Worten, noch an Thaten, weder an Religion noch
an geistiger Begabung gleichen die Menschen einander; wer das Licht
liebt, dessen Platz ist unter den leuchtenden Himmelskörpern, wer Finster-
nis, gehört zu den Mächten der Nacht".1)

Ungern habe ich theoretisiert, doch es musste sein. Denn eine
Theorie -- die Theorie der wesentlich einen, einigartigen Mensch-
heit2) -- steht jeder richtigen Einsicht in die Geschichte unserer Zeit,
wie überhaupt aller Zeiten, im Wege und ist uns doch so in
Fleisch und Blut übergegangen, dass sie wie Unkraut mühsam aus-
gejätet werden muss, ehe man mit Hoffnung auf Verständnis die evi-
dente Wahrheit aussprechen darf: unsere heutige Civilisation und Kultur
ist spezifisch germanisch, sie ist ausschliesslich das Werk des Germanen-
tums. Und doch ist dies die grosse, mittlere Grundwahrheit, die
konkrete Thatsache, welche die Geschichte der letzten tausend
Jahre auf jeder Seite uns lehrt. Anregungen nahm der Germane von
überall, doch er assimilierte sie sich und arbeitete sie zu einem Eigenen
um. So kam z. B. die Anregung zur Papierfabrikation aus China, doch nur
dem Germanen gab sie sofort die Idee des Buchdrucks ein;3) Beschäftigung
mit dem Altertum, dazu das Aufgraben alter Bildwerke regte in Italien
zu künstlerischer Gestaltung an, doch selbst die Skulptur wich gleich
von Anfang an von der hellenischen Tradition ab, indem sie das
Charakteristische, nicht das Typische, das Individuelle, nicht das Alle-
gorische sich zum Ziele setzte; die Architektur entnahm nur einiges
Detail, die Malerei gar nichts dem klassischen Altertum. Dies ledig-
lich als Beispiele; denn ähnlich verfuhr der Germane auf allen Gebieten.
Selbst das römische Recht wurde nie und nirgends vollständig recipiert,
ja, von gewissen Völkern -- namentlich von den nunmehr so mächtig
emporgeblühten Angelsachsen -- wurde es jederzeit und allen königlich-
päpstlichen Intriguen zum Trotz prinzipiell abgewiesen. Was an
ungermanischen Kräften sich bethätigte, that das -- wie wir dies

1) Siehe das Buch von Zad-Sparam XXI, 20 (in dem Band 47 der Sacred
Books of the East
enthalten).
2) Diese Theorie ist alt; Seneca z. B beruft sich mit Vorliebe auf das Ideal
der Menschheit, von dem die einzelnen Menschen gewissermassen mehr oder
weniger gelungene Abgüsse seien: "homines quidem pereunt, ipsa autem humanitas,
ad quem homo effingitur, permanet
" (Bf. 65 an Lucilius).
3) Vergl. unten den Abschnitt 3, "Industrie".

Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur.
schliesst die Möglichkeit eines Allgemeingültigen aus. Schon Zoroaster
hatte die weisen Worte gesprochen: »Weder an Gedanken, noch an
Begierden, noch an Worten, noch an Thaten, weder an Religion noch
an geistiger Begabung gleichen die Menschen einander; wer das Licht
liebt, dessen Platz ist unter den leuchtenden Himmelskörpern, wer Finster-
nis, gehört zu den Mächten der Nacht«.1)

Ungern habe ich theoretisiert, doch es musste sein. Denn eine
Theorie — die Theorie der wesentlich einen, einigartigen Mensch-
heit2) — steht jeder richtigen Einsicht in die Geschichte unserer Zeit,
wie überhaupt aller Zeiten, im Wege und ist uns doch so in
Fleisch und Blut übergegangen, dass sie wie Unkraut mühsam aus-
gejätet werden muss, ehe man mit Hoffnung auf Verständnis die evi-
dente Wahrheit aussprechen darf: unsere heutige Civilisation und Kultur
ist spezifisch germanisch, sie ist ausschliesslich das Werk des Germanen-
tums. Und doch ist dies die grosse, mittlere Grundwahrheit, die
konkrete Thatsache, welche die Geschichte der letzten tausend
Jahre auf jeder Seite uns lehrt. Anregungen nahm der Germane von
überall, doch er assimilierte sie sich und arbeitete sie zu einem Eigenen
um. So kam z. B. die Anregung zur Papierfabrikation aus China, doch nur
dem Germanen gab sie sofort die Idee des Buchdrucks ein;3) Beschäftigung
mit dem Altertum, dazu das Aufgraben alter Bildwerke regte in Italien
zu künstlerischer Gestaltung an, doch selbst die Skulptur wich gleich
von Anfang an von der hellenischen Tradition ab, indem sie das
Charakteristische, nicht das Typische, das Individuelle, nicht das Alle-
gorische sich zum Ziele setzte; die Architektur entnahm nur einiges
Detail, die Malerei gar nichts dem klassischen Altertum. Dies ledig-
lich als Beispiele; denn ähnlich verfuhr der Germane auf allen Gebieten.
Selbst das römische Recht wurde nie und nirgends vollständig recipiert,
ja, von gewissen Völkern — namentlich von den nunmehr so mächtig
emporgeblühten Angelsachsen — wurde es jederzeit und allen königlich-
päpstlichen Intriguen zum Trotz prinzipiell abgewiesen. Was an
ungermanischen Kräften sich bethätigte, that das — wie wir dies

1) Siehe das Buch von Zâd-Sparam XXI, 20 (in dem Band 47 der Sacred
Books of the East
enthalten).
2) Diese Theorie ist alt; Seneca z. B beruft sich mit Vorliebe auf das Ideal
der Menschheit, von dem die einzelnen Menschen gewissermassen mehr oder
weniger gelungene Abgüsse seien: »homines quidem pereunt, ipsa autem humanitas,
ad quem homo effingitur, permanet
« (Bf. 65 an Lucilius).
3) Vergl. unten den Abschnitt 3, »Industrie«.
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[709/0188] Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur. schliesst die Möglichkeit eines Allgemeingültigen aus. Schon Zoroaster hatte die weisen Worte gesprochen: »Weder an Gedanken, noch an Begierden, noch an Worten, noch an Thaten, weder an Religion noch an geistiger Begabung gleichen die Menschen einander; wer das Licht liebt, dessen Platz ist unter den leuchtenden Himmelskörpern, wer Finster- nis, gehört zu den Mächten der Nacht«. 1) Ungern habe ich theoretisiert, doch es musste sein. Denn eine Theorie — die Theorie der wesentlich einen, einigartigen Mensch- heit 2) — steht jeder richtigen Einsicht in die Geschichte unserer Zeit, wie überhaupt aller Zeiten, im Wege und ist uns doch so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie wie Unkraut mühsam aus- gejätet werden muss, ehe man mit Hoffnung auf Verständnis die evi- dente Wahrheit aussprechen darf: unsere heutige Civilisation und Kultur ist spezifisch germanisch, sie ist ausschliesslich das Werk des Germanen- tums. Und doch ist dies die grosse, mittlere Grundwahrheit, die konkrete Thatsache, welche die Geschichte der letzten tausend Jahre auf jeder Seite uns lehrt. Anregungen nahm der Germane von überall, doch er assimilierte sie sich und arbeitete sie zu einem Eigenen um. So kam z. B. die Anregung zur Papierfabrikation aus China, doch nur dem Germanen gab sie sofort die Idee des Buchdrucks ein; 3) Beschäftigung mit dem Altertum, dazu das Aufgraben alter Bildwerke regte in Italien zu künstlerischer Gestaltung an, doch selbst die Skulptur wich gleich von Anfang an von der hellenischen Tradition ab, indem sie das Charakteristische, nicht das Typische, das Individuelle, nicht das Alle- gorische sich zum Ziele setzte; die Architektur entnahm nur einiges Detail, die Malerei gar nichts dem klassischen Altertum. Dies ledig- lich als Beispiele; denn ähnlich verfuhr der Germane auf allen Gebieten. Selbst das römische Recht wurde nie und nirgends vollständig recipiert, ja, von gewissen Völkern — namentlich von den nunmehr so mächtig emporgeblühten Angelsachsen — wurde es jederzeit und allen königlich- päpstlichen Intriguen zum Trotz prinzipiell abgewiesen. Was an ungermanischen Kräften sich bethätigte, that das — wie wir dies 1) Siehe das Buch von Zâd-Sparam XXI, 20 (in dem Band 47 der Sacred Books of the East enthalten). 2) Diese Theorie ist alt; Seneca z. B beruft sich mit Vorliebe auf das Ideal der Menschheit, von dem die einzelnen Menschen gewissermassen mehr oder weniger gelungene Abgüsse seien: »homines quidem pereunt, ipsa autem humanitas, ad quem homo effingitur, permanet« (Bf. 65 an Lucilius). 3) Vergl. unten den Abschnitt 3, »Industrie«.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 709. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/188>, abgerufen am 20.04.2024.