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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur.
die unsere ihm; ein Jäger versteht durch Sympathie von der Seele
seines Hundes und der Hund von der seines Herrn mehr, als dieser
selbe Herr von der Seele des Chinesen, mit dem er auf die Jagd geht.1)
Alles Faseln über "Menschheit" hilft über derlei nüchtern sichere
Thatsachen nicht hinweg. Dagegen findet Der, welcher den weiten
Ozean bis zu den Vereinigten Staaten durchschifft, unter neuen Ge-
sichtern, in einem neu individualisierten Nationalcharakter unsere ger-
manische Kultur wieder und zwar in hoher Blüte, ebenso Derjenige,
welcher nach vierwöchentlichem Reisen an der australischen Küste
landet. NewYork und Melbourne sind ungleich "europäischer" als
das heutige Sevilla oder Athen, -- nicht im Aussehen, wohl aber
im Unternehmungsgeist, in der Leistungsfähigkeit, in der intellek-
tuellen Richtung, in Kunst und Wissenschaft, in Bezug auf das all-
gemeine moralische Niveau, kurz, in der Lebenskraft. Diese Lebens-
kraft ist das köstliche Erbe unserer Väter: einst besassen sie die Hellenen,
einst die Römer.

Erst diese Erkenntnis des streng individuellen Charakters unserer
Kultur und Civilisation befähigt uns, uns selber gerecht zu beurteilen:
uns und Andere. Denn das Wesen des Individuellen ist die Be-
schränkung und der Besitz einer eigenen Physiognomie, und der
Prodromus zu aller geschichtlichen Einsicht ist darum -- wie Schiller
es schön ausspricht -- "die Individualität der Dinge mit treuem
und keuschem Sinne ergreifen zu lernen". Eine Kultur kann die
andere vernichten, doch nicht durchdringen. Beginnen wir unsere
Geschichtswerke mit Ägypten -- oder nach den neuesten Entdeckungen
mit Babylonien -- und lassen dann die Menschheit sich chrono-
logisch entwickeln, so errichten wir ein durchaus künstliches Gebäude.
Denn die ägyptische Kultur z. B. ist ein durchaus abgeschlossenes
individuelles Wesen, über das wir nicht viel besser zu urteilen ver-
mögen, als über einen Ameisenstaat, und alle Ethnographen stimmen
überein in der Versicherung, die Fellahim des Nilthales seien heute
physisch und geistig mit denen von vor 5000 Jahren identisch; neue
Menschen wurden Herren des Landes und brachten eine neue Kultur
mit: eine Entwickelung fand nicht statt. Und was macht man in-
zwischen mit der gewaltigen Kultur der Indoarier? Soll sie nicht mit-
gerechnet werden? Wie aber soll sie eingegliedert werden, denn ihre
höchste Blüte fiel etwa auf den Beginn unserer germanischen Lauf-

1) Selbst dieses Bild hinkt, denn der Chinese geht nicht einmal auf die Jagd!

Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur.
die unsere ihm; ein Jäger versteht durch Sympathie von der Seele
seines Hundes und der Hund von der seines Herrn mehr, als dieser
selbe Herr von der Seele des Chinesen, mit dem er auf die Jagd geht.1)
Alles Faseln über »Menschheit« hilft über derlei nüchtern sichere
Thatsachen nicht hinweg. Dagegen findet Der, welcher den weiten
Ozean bis zu den Vereinigten Staaten durchschifft, unter neuen Ge-
sichtern, in einem neu individualisierten Nationalcharakter unsere ger-
manische Kultur wieder und zwar in hoher Blüte, ebenso Derjenige,
welcher nach vierwöchentlichem Reisen an der australischen Küste
landet. NewYork und Melbourne sind ungleich »europäischer« als
das heutige Sevilla oder Athen, — nicht im Aussehen, wohl aber
im Unternehmungsgeist, in der Leistungsfähigkeit, in der intellek-
tuellen Richtung, in Kunst und Wissenschaft, in Bezug auf das all-
gemeine moralische Niveau, kurz, in der Lebenskraft. Diese Lebens-
kraft ist das köstliche Erbe unserer Väter: einst besassen sie die Hellenen,
einst die Römer.

Erst diese Erkenntnis des streng individuellen Charakters unserer
Kultur und Civilisation befähigt uns, uns selber gerecht zu beurteilen:
uns und Andere. Denn das Wesen des Individuellen ist die Be-
schränkung und der Besitz einer eigenen Physiognomie, und der
Prodromus zu aller geschichtlichen Einsicht ist darum — wie Schiller
es schön ausspricht — »die Individualität der Dinge mit treuem
und keuschem Sinne ergreifen zu lernen«. Eine Kultur kann die
andere vernichten, doch nicht durchdringen. Beginnen wir unsere
Geschichtswerke mit Ägypten — oder nach den neuesten Entdeckungen
mit Babylonien — und lassen dann die Menschheit sich chrono-
logisch entwickeln, so errichten wir ein durchaus künstliches Gebäude.
Denn die ägyptische Kultur z. B. ist ein durchaus abgeschlossenes
individuelles Wesen, über das wir nicht viel besser zu urteilen ver-
mögen, als über einen Ameisenstaat, und alle Ethnographen stimmen
überein in der Versicherung, die Fellahim des Nilthales seien heute
physisch und geistig mit denen von vor 5000 Jahren identisch; neue
Menschen wurden Herren des Landes und brachten eine neue Kultur
mit: eine Entwickelung fand nicht statt. Und was macht man in-
zwischen mit der gewaltigen Kultur der Indoarier? Soll sie nicht mit-
gerechnet werden? Wie aber soll sie eingegliedert werden, denn ihre
höchste Blüte fiel etwa auf den Beginn unserer germanischen Lauf-

1) Selbst dieses Bild hinkt, denn der Chinese geht nicht einmal auf die Jagd!
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[711/0190] Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur. die unsere ihm; ein Jäger versteht durch Sympathie von der Seele seines Hundes und der Hund von der seines Herrn mehr, als dieser selbe Herr von der Seele des Chinesen, mit dem er auf die Jagd geht. 1) Alles Faseln über »Menschheit« hilft über derlei nüchtern sichere Thatsachen nicht hinweg. Dagegen findet Der, welcher den weiten Ozean bis zu den Vereinigten Staaten durchschifft, unter neuen Ge- sichtern, in einem neu individualisierten Nationalcharakter unsere ger- manische Kultur wieder und zwar in hoher Blüte, ebenso Derjenige, welcher nach vierwöchentlichem Reisen an der australischen Küste landet. NewYork und Melbourne sind ungleich »europäischer« als das heutige Sevilla oder Athen, — nicht im Aussehen, wohl aber im Unternehmungsgeist, in der Leistungsfähigkeit, in der intellek- tuellen Richtung, in Kunst und Wissenschaft, in Bezug auf das all- gemeine moralische Niveau, kurz, in der Lebenskraft. Diese Lebens- kraft ist das köstliche Erbe unserer Väter: einst besassen sie die Hellenen, einst die Römer. Erst diese Erkenntnis des streng individuellen Charakters unserer Kultur und Civilisation befähigt uns, uns selber gerecht zu beurteilen: uns und Andere. Denn das Wesen des Individuellen ist die Be- schränkung und der Besitz einer eigenen Physiognomie, und der Prodromus zu aller geschichtlichen Einsicht ist darum — wie Schiller es schön ausspricht — »die Individualität der Dinge mit treuem und keuschem Sinne ergreifen zu lernen«. Eine Kultur kann die andere vernichten, doch nicht durchdringen. Beginnen wir unsere Geschichtswerke mit Ägypten — oder nach den neuesten Entdeckungen mit Babylonien — und lassen dann die Menschheit sich chrono- logisch entwickeln, so errichten wir ein durchaus künstliches Gebäude. Denn die ägyptische Kultur z. B. ist ein durchaus abgeschlossenes individuelles Wesen, über das wir nicht viel besser zu urteilen ver- mögen, als über einen Ameisenstaat, und alle Ethnographen stimmen überein in der Versicherung, die Fellahim des Nilthales seien heute physisch und geistig mit denen von vor 5000 Jahren identisch; neue Menschen wurden Herren des Landes und brachten eine neue Kultur mit: eine Entwickelung fand nicht statt. Und was macht man in- zwischen mit der gewaltigen Kultur der Indoarier? Soll sie nicht mit- gerechnet werden? Wie aber soll sie eingegliedert werden, denn ihre höchste Blüte fiel etwa auf den Beginn unserer germanischen Lauf- 1) Selbst dieses Bild hinkt, denn der Chinese geht nicht einmal auf die Jagd!

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 711. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/190>, abgerufen am 23.04.2024.