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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
grosser Entfernung erblicken, dass alles, was für uns Geschichte aus-
macht, verschwände; vielleicht könnte der Mensch dann als ein In-
dividuelles erfasst, mit anderen analogen Erscheinungen -- z. B. auf
anderen Planeten -- verglichen und Fortschritt und Verfall seines
Wesens beobachtet werden: doch hat derlei hypothetische Sternguckerei
für uns und für den heutigen Tag keinen praktischen Wert. Unsere
germanische Kultur mit der hellenischen in die organische Beziehung
eines Fortschrittes oder eines Verfalles bringen zu wollen, ist kaum
vernünftiger als Buckle's vorhin genannte Gleichung zwischen Datteln
und Reis, im Gegenteil, es ist weniger vernünftig; denn Datteln
und Reis werden als voneinander wesentlich verschieden erkannt,
ausserdem als ein Allgemeines, Unveränderliches, während wir bei
jenem Vergleich gerade das Unterscheidende übersehen und nicht
bedenken, dass das Individuelle ein Niewiederkehrendes, darum auch
Abgeschlossenes und Absolutes ist. Kann man behaupten, Michel-
angelo bedeute einen Fortschritt über Phidias? Shakespeare über
Sophokles? Oder einen Verfall? Glaubt man, es sei möglich, einer
derartigen Behauptung irgend eine Spur von Sinn zu entlocken? Gewiss
glaubt das Keiner. Was er aber nicht einsieht, ist, dass dasselbe von
den gesamten Volksindividualitäten und Kulturerscheinungen gilt, welche
diese seltenen Männer zu besonders lebhaftem Ausdruck brachten. Und
so stellen wir denn immerfort Vergleiche an: die grosse schwatzende
Menge glaubt an den endlosen "Fortschritt der Menschheit" so fest
wie eine Nonne an die unbefleckte Empfängnis, die bedeutenderen,
nachdenklichen Geister ahnten zu allen Zeiten -- von Hesiod bis
Schiller, von urbabylonischer Symbolik bis Arthur Schopenhauer --
eher Verfall. Beides ist nur als ungeschichtliches Bild zulässig. Man
braucht nur die Grenze der Civilisation zu überschreiten: an der Last,
die einem da von Haupt und Schultern fällt, an der Wonne, die sich
dem Auge aufthut, merkt man sofort, wie teuer der angebliche Fort-
schritt bezahlt wird. Mich dünkt, ein heutiger macedonischer Hirt
führt ein ebenso nützliches und ein weit würdigeres und glücklicheres
Dasein als ein Fabrikarbeiter in Chaux-de-Fonds, der von seinem zehnten
Jahre ab bis an sein Grab vierzehn Stunden täglich ein bestimmtes
Gangrad für Taschenuhren mechanisch herstellt. Wenn nun die In-
geniosität, welche zur Erfindung und Vervollkommnung der Uhr führt,
dem Menschen, der sie macht, den Anblick des grossen, Leben und
Gesundheit spendenden Zeitmessers, der Sonne, raubt, so muss man
einsehen, dass dieser Fortschritt -- wie bewundernswert er auch sei --

Die Entstehung einer neuen Welt.
grosser Entfernung erblicken, dass alles, was für uns Geschichte aus-
macht, verschwände; vielleicht könnte der Mensch dann als ein In-
dividuelles erfasst, mit anderen analogen Erscheinungen — z. B. auf
anderen Planeten — verglichen und Fortschritt und Verfall seines
Wesens beobachtet werden: doch hat derlei hypothetische Sternguckerei
für uns und für den heutigen Tag keinen praktischen Wert. Unsere
germanische Kultur mit der hellenischen in die organische Beziehung
eines Fortschrittes oder eines Verfalles bringen zu wollen, ist kaum
vernünftiger als Buckle’s vorhin genannte Gleichung zwischen Datteln
und Reis, im Gegenteil, es ist weniger vernünftig; denn Datteln
und Reis werden als voneinander wesentlich verschieden erkannt,
ausserdem als ein Allgemeines, Unveränderliches, während wir bei
jenem Vergleich gerade das Unterscheidende übersehen und nicht
bedenken, dass das Individuelle ein Niewiederkehrendes, darum auch
Abgeschlossenes und Absolutes ist. Kann man behaupten, Michel-
angelo bedeute einen Fortschritt über Phidias? Shakespeare über
Sophokles? Oder einen Verfall? Glaubt man, es sei möglich, einer
derartigen Behauptung irgend eine Spur von Sinn zu entlocken? Gewiss
glaubt das Keiner. Was er aber nicht einsieht, ist, dass dasselbe von
den gesamten Volksindividualitäten und Kulturerscheinungen gilt, welche
diese seltenen Männer zu besonders lebhaftem Ausdruck brachten. Und
so stellen wir denn immerfort Vergleiche an: die grosse schwatzende
Menge glaubt an den endlosen »Fortschritt der Menschheit« so fest
wie eine Nonne an die unbefleckte Empfängnis, die bedeutenderen,
nachdenklichen Geister ahnten zu allen Zeiten — von Hesiod bis
Schiller, von urbabylonischer Symbolik bis Arthur Schopenhauer —
eher Verfall. Beides ist nur als ungeschichtliches Bild zulässig. Man
braucht nur die Grenze der Civilisation zu überschreiten: an der Last,
die einem da von Haupt und Schultern fällt, an der Wonne, die sich
dem Auge aufthut, merkt man sofort, wie teuer der angebliche Fort-
schritt bezahlt wird. Mich dünkt, ein heutiger macedonischer Hirt
führt ein ebenso nützliches und ein weit würdigeres und glücklicheres
Dasein als ein Fabrikarbeiter in Chaux-de-Fonds, der von seinem zehnten
Jahre ab bis an sein Grab vierzehn Stunden täglich ein bestimmtes
Gangrad für Taschenuhren mechanisch herstellt. Wenn nun die In-
geniosität, welche zur Erfindung und Vervollkommnung der Uhr führt,
dem Menschen, der sie macht, den Anblick des grossen, Leben und
Gesundheit spendenden Zeitmessers, der Sonne, raubt, so muss man
einsehen, dass dieser Fortschritt — wie bewundernswert er auch sei —

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[718/0197] Die Entstehung einer neuen Welt. grosser Entfernung erblicken, dass alles, was für uns Geschichte aus- macht, verschwände; vielleicht könnte der Mensch dann als ein In- dividuelles erfasst, mit anderen analogen Erscheinungen — z. B. auf anderen Planeten — verglichen und Fortschritt und Verfall seines Wesens beobachtet werden: doch hat derlei hypothetische Sternguckerei für uns und für den heutigen Tag keinen praktischen Wert. Unsere germanische Kultur mit der hellenischen in die organische Beziehung eines Fortschrittes oder eines Verfalles bringen zu wollen, ist kaum vernünftiger als Buckle’s vorhin genannte Gleichung zwischen Datteln und Reis, im Gegenteil, es ist weniger vernünftig; denn Datteln und Reis werden als voneinander wesentlich verschieden erkannt, ausserdem als ein Allgemeines, Unveränderliches, während wir bei jenem Vergleich gerade das Unterscheidende übersehen und nicht bedenken, dass das Individuelle ein Niewiederkehrendes, darum auch Abgeschlossenes und Absolutes ist. Kann man behaupten, Michel- angelo bedeute einen Fortschritt über Phidias? Shakespeare über Sophokles? Oder einen Verfall? Glaubt man, es sei möglich, einer derartigen Behauptung irgend eine Spur von Sinn zu entlocken? Gewiss glaubt das Keiner. Was er aber nicht einsieht, ist, dass dasselbe von den gesamten Volksindividualitäten und Kulturerscheinungen gilt, welche diese seltenen Männer zu besonders lebhaftem Ausdruck brachten. Und so stellen wir denn immerfort Vergleiche an: die grosse schwatzende Menge glaubt an den endlosen »Fortschritt der Menschheit« so fest wie eine Nonne an die unbefleckte Empfängnis, die bedeutenderen, nachdenklichen Geister ahnten zu allen Zeiten — von Hesiod bis Schiller, von urbabylonischer Symbolik bis Arthur Schopenhauer — eher Verfall. Beides ist nur als ungeschichtliches Bild zulässig. Man braucht nur die Grenze der Civilisation zu überschreiten: an der Last, die einem da von Haupt und Schultern fällt, an der Wonne, die sich dem Auge aufthut, merkt man sofort, wie teuer der angebliche Fort- schritt bezahlt wird. Mich dünkt, ein heutiger macedonischer Hirt führt ein ebenso nützliches und ein weit würdigeres und glücklicheres Dasein als ein Fabrikarbeiter in Chaux-de-Fonds, der von seinem zehnten Jahre ab bis an sein Grab vierzehn Stunden täglich ein bestimmtes Gangrad für Taschenuhren mechanisch herstellt. Wenn nun die In- geniosität, welche zur Erfindung und Vervollkommnung der Uhr führt, dem Menschen, der sie macht, den Anblick des grossen, Leben und Gesundheit spendenden Zeitmessers, der Sonne, raubt, so muss man einsehen, dass dieser Fortschritt — wie bewundernswert er auch sei —

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 718. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/197>, abgerufen am 23.04.2024.