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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur.
durch einen entsprechenden Rückschritt erkauft wird. Ähnlich überall.
Um den Begriff des Fortschrittes zu retten, hat man ihn "einer Kreis-
bewegung" verglichen, in welcher sich der Radius verlängert".1) Da-
mit ist aber der Fortschritt aller Bedeutung entblösst; denn jeder Kreis
ist jedem anderen in allen wesentlichen Eigenschaften gleich, die
grössere oder geringere Ausdehnung kann unmöglich als grössere oder
geringere Vollkommenheit aufgefasst werden. Doch ist die entgegen-
gesetzte Anschauung, diejenige eines Verfalles der Menschheit, ebenso-
wenig stichhaltig, sobald sie das konkret Historische zu deuten unter-
nimmt. So kann z. B. der Satz Schiller's, den ich in der allgemeinen
Einleitung zu diesem Buche anführte, nur auf sehr bedingte Gültigkeit
Anspruch machen: "Welcher einzelne Neuere tritt heraus, Mann gegen
Mann, mit dem einzelnen Athenienser um den Preis der Menschheit
zu streiten?" Jeder Kundige versteht, was der edle Dichter hier meint;
in welchem Sinne er Recht hat, habe ich selber anzudeuten versucht;2)
und dennoch reizt der Satz zu entschiedenem Widerspruch, und zwar
zu mehrfachem. Was soll dieser "Preis der Menschheit"? Es ist
wieder jener abstrakte Begriff einer "Menschheit", der das Urteil ver-
wirrt! Bei den freien Bürgern Athens (und nur solche kann Schiller
im Sinne haben) kamen auf einen Mann zwanzig Sklaven: da konnte
man freilich Musse finden, um den Körper zu pflegen, Philosophie zu
studieren und Kunst zu treiben; unsere germanische Kultur dagegen
(wie die chinesische -- denn in solchen Dingen offenbart sich nicht
Fortschritt, sondern angeborener Charakter) war von jeher eine Gegnerin
des Sklaventums, immer wieder stellt sich dieses so natürliche Ver-
hältnis ein, und immer wieder schütteln wir es voll Abscheu von
uns ab; wie viele giebt es unter uns -- vom König bis zum Orgel-
dreher -- die nicht den lieben langen Tag im Schweisse ihres Ange-
sichts sich zwingen müssen, ihr Höchstes zu leisten? Sollte aber das
Arbeiten nicht an und für sich mindestens ebenso veredelnd wirken
wie Baden und Boxen?3) Nicht lange würde ich nach dem von Schiller
geforderten "einzelnen Neueren" herumsuchen: Friedrich Schiller selber
würde ich bei der Hand nehmen und ihn mitten unter die Grössten
aller hellenischen Jahrhunderte führen; nackend im Gymnasium dürfte

1) So z. B. Justus Liebig: Reden und Abhandlungen, 1874, S. 273; in ähn-
licher Weise mehrere Andere.
2) Siehe S. 33 und S. 69 bis 75.
3) Ohne davon zu sprechen, dass die moderne Athletik nachgewiesener-
massen mehr leistet als die alte.

Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur.
durch einen entsprechenden Rückschritt erkauft wird. Ähnlich überall.
Um den Begriff des Fortschrittes zu retten, hat man ihn »einer Kreis-
bewegung« verglichen, in welcher sich der Radius verlängert«.1) Da-
mit ist aber der Fortschritt aller Bedeutung entblösst; denn jeder Kreis
ist jedem anderen in allen wesentlichen Eigenschaften gleich, die
grössere oder geringere Ausdehnung kann unmöglich als grössere oder
geringere Vollkommenheit aufgefasst werden. Doch ist die entgegen-
gesetzte Anschauung, diejenige eines Verfalles der Menschheit, ebenso-
wenig stichhaltig, sobald sie das konkret Historische zu deuten unter-
nimmt. So kann z. B. der Satz Schiller’s, den ich in der allgemeinen
Einleitung zu diesem Buche anführte, nur auf sehr bedingte Gültigkeit
Anspruch machen: »Welcher einzelne Neuere tritt heraus, Mann gegen
Mann, mit dem einzelnen Athenienser um den Preis der Menschheit
zu streiten?« Jeder Kundige versteht, was der edle Dichter hier meint;
in welchem Sinne er Recht hat, habe ich selber anzudeuten versucht;2)
und dennoch reizt der Satz zu entschiedenem Widerspruch, und zwar
zu mehrfachem. Was soll dieser »Preis der Menschheit«? Es ist
wieder jener abstrakte Begriff einer »Menschheit«, der das Urteil ver-
wirrt! Bei den freien Bürgern Athens (und nur solche kann Schiller
im Sinne haben) kamen auf einen Mann zwanzig Sklaven: da konnte
man freilich Musse finden, um den Körper zu pflegen, Philosophie zu
studieren und Kunst zu treiben; unsere germanische Kultur dagegen
(wie die chinesische — denn in solchen Dingen offenbart sich nicht
Fortschritt, sondern angeborener Charakter) war von jeher eine Gegnerin
des Sklaventums, immer wieder stellt sich dieses so natürliche Ver-
hältnis ein, und immer wieder schütteln wir es voll Abscheu von
uns ab; wie viele giebt es unter uns — vom König bis zum Orgel-
dreher — die nicht den lieben langen Tag im Schweisse ihres Ange-
sichts sich zwingen müssen, ihr Höchstes zu leisten? Sollte aber das
Arbeiten nicht an und für sich mindestens ebenso veredelnd wirken
wie Baden und Boxen?3) Nicht lange würde ich nach dem von Schiller
geforderten »einzelnen Neueren« herumsuchen: Friedrich Schiller selber
würde ich bei der Hand nehmen und ihn mitten unter die Grössten
aller hellenischen Jahrhunderte führen; nackend im Gymnasium dürfte

1) So z. B. Justus Liebig: Reden und Abhandlungen, 1874, S. 273; in ähn-
licher Weise mehrere Andere.
2) Siehe S. 33 und S. 69 bis 75.
3) Ohne davon zu sprechen, dass die moderne Athletik nachgewiesener-
massen mehr leistet als die alte.
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[719/0198] Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur. durch einen entsprechenden Rückschritt erkauft wird. Ähnlich überall. Um den Begriff des Fortschrittes zu retten, hat man ihn »einer Kreis- bewegung« verglichen, in welcher sich der Radius verlängert«. 1) Da- mit ist aber der Fortschritt aller Bedeutung entblösst; denn jeder Kreis ist jedem anderen in allen wesentlichen Eigenschaften gleich, die grössere oder geringere Ausdehnung kann unmöglich als grössere oder geringere Vollkommenheit aufgefasst werden. Doch ist die entgegen- gesetzte Anschauung, diejenige eines Verfalles der Menschheit, ebenso- wenig stichhaltig, sobald sie das konkret Historische zu deuten unter- nimmt. So kann z. B. der Satz Schiller’s, den ich in der allgemeinen Einleitung zu diesem Buche anführte, nur auf sehr bedingte Gültigkeit Anspruch machen: »Welcher einzelne Neuere tritt heraus, Mann gegen Mann, mit dem einzelnen Athenienser um den Preis der Menschheit zu streiten?« Jeder Kundige versteht, was der edle Dichter hier meint; in welchem Sinne er Recht hat, habe ich selber anzudeuten versucht; 2) und dennoch reizt der Satz zu entschiedenem Widerspruch, und zwar zu mehrfachem. Was soll dieser »Preis der Menschheit«? Es ist wieder jener abstrakte Begriff einer »Menschheit«, der das Urteil ver- wirrt! Bei den freien Bürgern Athens (und nur solche kann Schiller im Sinne haben) kamen auf einen Mann zwanzig Sklaven: da konnte man freilich Musse finden, um den Körper zu pflegen, Philosophie zu studieren und Kunst zu treiben; unsere germanische Kultur dagegen (wie die chinesische — denn in solchen Dingen offenbart sich nicht Fortschritt, sondern angeborener Charakter) war von jeher eine Gegnerin des Sklaventums, immer wieder stellt sich dieses so natürliche Ver- hältnis ein, und immer wieder schütteln wir es voll Abscheu von uns ab; wie viele giebt es unter uns — vom König bis zum Orgel- dreher — die nicht den lieben langen Tag im Schweisse ihres Ange- sichts sich zwingen müssen, ihr Höchstes zu leisten? Sollte aber das Arbeiten nicht an und für sich mindestens ebenso veredelnd wirken wie Baden und Boxen? 3) Nicht lange würde ich nach dem von Schiller geforderten »einzelnen Neueren« herumsuchen: Friedrich Schiller selber würde ich bei der Hand nehmen und ihn mitten unter die Grössten aller hellenischen Jahrhunderte führen; nackend im Gymnasium dürfte 1) So z. B. Justus Liebig: Reden und Abhandlungen, 1874, S. 273; in ähn- licher Weise mehrere Andere. 2) Siehe S. 33 und S. 69 bis 75. 3) Ohne davon zu sprechen, dass die moderne Athletik nachgewiesener- massen mehr leistet als die alte.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 719. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/198>, abgerufen am 25.04.2024.