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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
der ewig kranke Mann allerdings zunächst wenig Staat machen, doch
sein Herz und sein Geist würden immer erhabener sich aufrichten, je
mehr sie von allen Widerwärtigkeiten der zufälligen Daseinsformen
entblösst dastünden, und ohne Widerlegung zu fürchten, würde ich
laut behaupten: dieser einzelne Neuere ist euch allen durch sein
Wissen, durch sein Streben, durch sein sittliches Ideal überlegen; als
Denker überragt er euch bedeutend und als Dichter ist er euch fast
ebenbürtig. Welcher hellenische Künstler, ich frage es, lässt sich in
Bezug auf Schöpferkraft und Gewalt des Ausdruckes einem Richard
Wagner an die Seite stellen? und wo hat das gesamte Hellenentum
einen Mann hervorgebracht, würdig mit einem Goethe um den Preis
der Menschheit zu streiten? Hier stossen wir auf einen weiteren Wider-
spruch, den Schiller's Behauptung hervorruft, denn wenn unsere Dichter
den grössten Poeten Athen's nicht in jeder Beziehung gleichstehen,
so ist das die Schuld nicht ihres Talents, sondern ihrer Umgebung,
die den Wert der Kunst nicht begreift; wogegen Schiller die Meinung
vertritt, als Einzelne kämen wir den Athenern nicht gleich, als Ganzes
jedoch sei unsere Kultur der ihrigen überlegen. Ein entschiedener
Irrtum, hinter welchem wieder das Gespenst "Menschheit" steckt.
Denn wenn auch ein absoluter Vergleich zweier Völker (wenigstens
nach meiner Überzeugung) unzulässig ist, gegen eine Parallelisierung
der individuellen Entwickelungsstadien kann nichts eingewendet werden,
und aus dieser geht hervor, dass wir die Hellenen auf einem höchsten
und (trotz aller schreienden Mängel ihrer Individualität) eigentümlich
harmonischen Höhepunkt erblicken, woher der unvergleichliche Zauber
ihrer Kultur, während wir Germanen noch mitten im Werden, im
Widerspruch, in der Unklarheit über uns selber stehen, dazu umringt
und an manchen Punkten bis ins Herz durchdrungen von ungleich-
artigen Elementen, die dasjenige, was wir aufbauen, herunterreissen
und uns dem eigenen Wesen entfremden. Dort hatte sich eine Volks-
individualität bis zur Klarheit durchgerungen; hier, bei uns, ist alles
noch Gährung; schroff isoliert stehen die höchsten Erscheinungen
unseres Geisteslebens nebeneinander, fast feindlich sich anblickend,
und erst nach vieler Arbeit wird es uns gelingen, als Ganzes die
Stufe zu erklimmen, auf der hellenische Kultur, römische, indische,
ägyptische Kultur einst standen.

Historisches
Kriterium.

Verwerfen wir nun das Wahngebilde einer fortschreitenden und
rückschreitenden Menschheit und bescheiden wir uns mit der Erkenntnis,
dass unsere Kultur eine spezifisch nordeuropäische, d. h. germanische

Die Entstehung einer neuen Welt.
der ewig kranke Mann allerdings zunächst wenig Staat machen, doch
sein Herz und sein Geist würden immer erhabener sich aufrichten, je
mehr sie von allen Widerwärtigkeiten der zufälligen Daseinsformen
entblösst dastünden, und ohne Widerlegung zu fürchten, würde ich
laut behaupten: dieser einzelne Neuere ist euch allen durch sein
Wissen, durch sein Streben, durch sein sittliches Ideal überlegen; als
Denker überragt er euch bedeutend und als Dichter ist er euch fast
ebenbürtig. Welcher hellenische Künstler, ich frage es, lässt sich in
Bezug auf Schöpferkraft und Gewalt des Ausdruckes einem Richard
Wagner an die Seite stellen? und wo hat das gesamte Hellenentum
einen Mann hervorgebracht, würdig mit einem Goethe um den Preis
der Menschheit zu streiten? Hier stossen wir auf einen weiteren Wider-
spruch, den Schiller’s Behauptung hervorruft, denn wenn unsere Dichter
den grössten Poeten Athen’s nicht in jeder Beziehung gleichstehen,
so ist das die Schuld nicht ihres Talents, sondern ihrer Umgebung,
die den Wert der Kunst nicht begreift; wogegen Schiller die Meinung
vertritt, als Einzelne kämen wir den Athenern nicht gleich, als Ganzes
jedoch sei unsere Kultur der ihrigen überlegen. Ein entschiedener
Irrtum, hinter welchem wieder das Gespenst »Menschheit« steckt.
Denn wenn auch ein absoluter Vergleich zweier Völker (wenigstens
nach meiner Überzeugung) unzulässig ist, gegen eine Parallelisierung
der individuellen Entwickelungsstadien kann nichts eingewendet werden,
und aus dieser geht hervor, dass wir die Hellenen auf einem höchsten
und (trotz aller schreienden Mängel ihrer Individualität) eigentümlich
harmonischen Höhepunkt erblicken, woher der unvergleichliche Zauber
ihrer Kultur, während wir Germanen noch mitten im Werden, im
Widerspruch, in der Unklarheit über uns selber stehen, dazu umringt
und an manchen Punkten bis ins Herz durchdrungen von ungleich-
artigen Elementen, die dasjenige, was wir aufbauen, herunterreissen
und uns dem eigenen Wesen entfremden. Dort hatte sich eine Volks-
individualität bis zur Klarheit durchgerungen; hier, bei uns, ist alles
noch Gährung; schroff isoliert stehen die höchsten Erscheinungen
unseres Geisteslebens nebeneinander, fast feindlich sich anblickend,
und erst nach vieler Arbeit wird es uns gelingen, als Ganzes die
Stufe zu erklimmen, auf der hellenische Kultur, römische, indische,
ägyptische Kultur einst standen.

Historisches
Kriterium.

Verwerfen wir nun das Wahngebilde einer fortschreitenden und
rückschreitenden Menschheit und bescheiden wir uns mit der Erkenntnis,
dass unsere Kultur eine spezifisch nordeuropäische, d. h. germanische

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[720/0199] Die Entstehung einer neuen Welt. der ewig kranke Mann allerdings zunächst wenig Staat machen, doch sein Herz und sein Geist würden immer erhabener sich aufrichten, je mehr sie von allen Widerwärtigkeiten der zufälligen Daseinsformen entblösst dastünden, und ohne Widerlegung zu fürchten, würde ich laut behaupten: dieser einzelne Neuere ist euch allen durch sein Wissen, durch sein Streben, durch sein sittliches Ideal überlegen; als Denker überragt er euch bedeutend und als Dichter ist er euch fast ebenbürtig. Welcher hellenische Künstler, ich frage es, lässt sich in Bezug auf Schöpferkraft und Gewalt des Ausdruckes einem Richard Wagner an die Seite stellen? und wo hat das gesamte Hellenentum einen Mann hervorgebracht, würdig mit einem Goethe um den Preis der Menschheit zu streiten? Hier stossen wir auf einen weiteren Wider- spruch, den Schiller’s Behauptung hervorruft, denn wenn unsere Dichter den grössten Poeten Athen’s nicht in jeder Beziehung gleichstehen, so ist das die Schuld nicht ihres Talents, sondern ihrer Umgebung, die den Wert der Kunst nicht begreift; wogegen Schiller die Meinung vertritt, als Einzelne kämen wir den Athenern nicht gleich, als Ganzes jedoch sei unsere Kultur der ihrigen überlegen. Ein entschiedener Irrtum, hinter welchem wieder das Gespenst »Menschheit« steckt. Denn wenn auch ein absoluter Vergleich zweier Völker (wenigstens nach meiner Überzeugung) unzulässig ist, gegen eine Parallelisierung der individuellen Entwickelungsstadien kann nichts eingewendet werden, und aus dieser geht hervor, dass wir die Hellenen auf einem höchsten und (trotz aller schreienden Mängel ihrer Individualität) eigentümlich harmonischen Höhepunkt erblicken, woher der unvergleichliche Zauber ihrer Kultur, während wir Germanen noch mitten im Werden, im Widerspruch, in der Unklarheit über uns selber stehen, dazu umringt und an manchen Punkten bis ins Herz durchdrungen von ungleich- artigen Elementen, die dasjenige, was wir aufbauen, herunterreissen und uns dem eigenen Wesen entfremden. Dort hatte sich eine Volks- individualität bis zur Klarheit durchgerungen; hier, bei uns, ist alles noch Gährung; schroff isoliert stehen die höchsten Erscheinungen unseres Geisteslebens nebeneinander, fast feindlich sich anblickend, und erst nach vieler Arbeit wird es uns gelingen, als Ganzes die Stufe zu erklimmen, auf der hellenische Kultur, römische, indische, ägyptische Kultur einst standen. Verwerfen wir nun das Wahngebilde einer fortschreitenden und rückschreitenden Menschheit und bescheiden wir uns mit der Erkenntnis, dass unsere Kultur eine spezifisch nordeuropäische, d. h. germanische

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 720. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/199>, abgerufen am 25.04.2024.