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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
werden wir überall bei ihm begegnen und sie gleich hochschätzen.
Denn die Erkenntnis, dass es sich um ein Individuelles handelt, wird
uns vor allem lehren, nicht die logischen Begriffe absoluter Theorien
über Gutes und Böses, Höheres und Niedrigeres bei der Beurteilung
zu Rate zu ziehen, sondern unser Augenmerk auf die Individualität
zu richten; jede Individualität wird aber stets am besten aus ihren
inneren Gegensätzen erkannt; wo sie einförmig ist, ist sie auch un-
gestaltet, unindividuell. So z. B. ist für den Germanen eine noch nie
dagewesene Expansionskraft charakteristisch und zugleich eine Neigung
zu einer vor ihm unbekannten Konzentration. Die Expansionskraft
sehen wir am Werke: auf praktischem Gebiete, in der allmählichen
Besiedelung der ganzen Erdoberfläche, auf wissenschaftlichem, in
der Aufdeckung des unbegrenzten Kosmos, in dem Suchen nach
immer ferneren Ursachen, auf idealem, in der Vorstellung des Trans-
scendenten, in der Kühnheit der Hypothesen, sowie in dem künstlerischen
Adlerflug, der zu immer umfassenderen Ausdrucksmitteln führt. Zu-
gleich erfolgt aber jene Rückkehr in immer enger gezogene Kreise,
durch Wälle und Gräben von allem Äusseren sorglich abgegrenzt: das
Stammverwandte, das Vaterland, der Gau,1) das eigene Dorf, das un-
verletzliche Heim (my home is my castle, gleich wie in Rom), der
engste Familienkreis, zuletzt das Zurückgehen auf den innersten Mittel-
punkt des Individuums, welches nun, bis zum Bewusstsein der un-
bedingten Einsamkeit geläutert, der Welt der Erscheinung als unsicht-
bares, autonomes Wesen entgegentritt, ein höchster Herr der Freiheit
(gleich wie bei den Indern); eine Konzentrationskraft, die sich auf anderen
Gebieten äussert als Parzellierung in kleine Fürstentümer, als Be-
schränkung auf ein "Fach" (sei es in Wissenschaft oder Industrie), als
Sekten- und Schulwesen (gleich wie in Griechenland), als intimste
poetische Wirkung, wie z. B. der Holzstich, die Radierung, die Kammer-
musik. Im Charakter bedeuten diese durch die höhere Individualität der
Rasse zusammengehaltenen gegensätzlichen Anlagen: Unternehmungs-
geist gepaart mit Gewissenhaftigkeit, oder aber -- wenn auf Irrwege
geraten -- Spekulation (Börse oder Philosophie, gleichviel) und eng-
herzige Pedanterie und Kleinmütigkeit.

Es kann nicht mein Zweck sein, eine erschöpfende Schilderung der
germanischen Individualität zu versuchen; alles Individuelle -- so deutlich

1) Wundervoll in Jakob Grimm's Lebenserinnerungen geschildert, wo er
beschreibt, wie die Hessen-Nassauer auf die Hessen-Darmstädter "mit einer Art von
Geringschätzung herabsehen".

Die Entstehung einer neuen Welt.
werden wir überall bei ihm begegnen und sie gleich hochschätzen.
Denn die Erkenntnis, dass es sich um ein Individuelles handelt, wird
uns vor allem lehren, nicht die logischen Begriffe absoluter Theorien
über Gutes und Böses, Höheres und Niedrigeres bei der Beurteilung
zu Rate zu ziehen, sondern unser Augenmerk auf die Individualität
zu richten; jede Individualität wird aber stets am besten aus ihren
inneren Gegensätzen erkannt; wo sie einförmig ist, ist sie auch un-
gestaltet, unindividuell. So z. B. ist für den Germanen eine noch nie
dagewesene Expansionskraft charakteristisch und zugleich eine Neigung
zu einer vor ihm unbekannten Konzentration. Die Expansionskraft
sehen wir am Werke: auf praktischem Gebiete, in der allmählichen
Besiedelung der ganzen Erdoberfläche, auf wissenschaftlichem, in
der Aufdeckung des unbegrenzten Kosmos, in dem Suchen nach
immer ferneren Ursachen, auf idealem, in der Vorstellung des Trans-
scendenten, in der Kühnheit der Hypothesen, sowie in dem künstlerischen
Adlerflug, der zu immer umfassenderen Ausdrucksmitteln führt. Zu-
gleich erfolgt aber jene Rückkehr in immer enger gezogene Kreise,
durch Wälle und Gräben von allem Äusseren sorglich abgegrenzt: das
Stammverwandte, das Vaterland, der Gau,1) das eigene Dorf, das un-
verletzliche Heim (my home is my castle, gleich wie in Rom), der
engste Familienkreis, zuletzt das Zurückgehen auf den innersten Mittel-
punkt des Individuums, welches nun, bis zum Bewusstsein der un-
bedingten Einsamkeit geläutert, der Welt der Erscheinung als unsicht-
bares, autonomes Wesen entgegentritt, ein höchster Herr der Freiheit
(gleich wie bei den Indern); eine Konzentrationskraft, die sich auf anderen
Gebieten äussert als Parzellierung in kleine Fürstentümer, als Be-
schränkung auf ein »Fach« (sei es in Wissenschaft oder Industrie), als
Sekten- und Schulwesen (gleich wie in Griechenland), als intimste
poetische Wirkung, wie z. B. der Holzstich, die Radierung, die Kammer-
musik. Im Charakter bedeuten diese durch die höhere Individualität der
Rasse zusammengehaltenen gegensätzlichen Anlagen: Unternehmungs-
geist gepaart mit Gewissenhaftigkeit, oder aber — wenn auf Irrwege
geraten — Spekulation (Börse oder Philosophie, gleichviel) und eng-
herzige Pedanterie und Kleinmütigkeit.

Es kann nicht mein Zweck sein, eine erschöpfende Schilderung der
germanischen Individualität zu versuchen; alles Individuelle — so deutlich

1) Wundervoll in Jakob Grimm’s Lebenserinnerungen geschildert, wo er
beschreibt, wie die Hessen-Nassauer auf die Hessen-Darmstädter »mit einer Art von
Geringschätzung herabsehen«.
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[724/0203] Die Entstehung einer neuen Welt. werden wir überall bei ihm begegnen und sie gleich hochschätzen. Denn die Erkenntnis, dass es sich um ein Individuelles handelt, wird uns vor allem lehren, nicht die logischen Begriffe absoluter Theorien über Gutes und Böses, Höheres und Niedrigeres bei der Beurteilung zu Rate zu ziehen, sondern unser Augenmerk auf die Individualität zu richten; jede Individualität wird aber stets am besten aus ihren inneren Gegensätzen erkannt; wo sie einförmig ist, ist sie auch un- gestaltet, unindividuell. So z. B. ist für den Germanen eine noch nie dagewesene Expansionskraft charakteristisch und zugleich eine Neigung zu einer vor ihm unbekannten Konzentration. Die Expansionskraft sehen wir am Werke: auf praktischem Gebiete, in der allmählichen Besiedelung der ganzen Erdoberfläche, auf wissenschaftlichem, in der Aufdeckung des unbegrenzten Kosmos, in dem Suchen nach immer ferneren Ursachen, auf idealem, in der Vorstellung des Trans- scendenten, in der Kühnheit der Hypothesen, sowie in dem künstlerischen Adlerflug, der zu immer umfassenderen Ausdrucksmitteln führt. Zu- gleich erfolgt aber jene Rückkehr in immer enger gezogene Kreise, durch Wälle und Gräben von allem Äusseren sorglich abgegrenzt: das Stammverwandte, das Vaterland, der Gau, 1) das eigene Dorf, das un- verletzliche Heim (my home is my castle, gleich wie in Rom), der engste Familienkreis, zuletzt das Zurückgehen auf den innersten Mittel- punkt des Individuums, welches nun, bis zum Bewusstsein der un- bedingten Einsamkeit geläutert, der Welt der Erscheinung als unsicht- bares, autonomes Wesen entgegentritt, ein höchster Herr der Freiheit (gleich wie bei den Indern); eine Konzentrationskraft, die sich auf anderen Gebieten äussert als Parzellierung in kleine Fürstentümer, als Be- schränkung auf ein »Fach« (sei es in Wissenschaft oder Industrie), als Sekten- und Schulwesen (gleich wie in Griechenland), als intimste poetische Wirkung, wie z. B. der Holzstich, die Radierung, die Kammer- musik. Im Charakter bedeuten diese durch die höhere Individualität der Rasse zusammengehaltenen gegensätzlichen Anlagen: Unternehmungs- geist gepaart mit Gewissenhaftigkeit, oder aber — wenn auf Irrwege geraten — Spekulation (Börse oder Philosophie, gleichviel) und eng- herzige Pedanterie und Kleinmütigkeit. Es kann nicht mein Zweck sein, eine erschöpfende Schilderung der germanischen Individualität zu versuchen; alles Individuelle — so deutlich 1) Wundervoll in Jakob Grimm’s Lebenserinnerungen geschildert, wo er beschreibt, wie die Hessen-Nassauer auf die Hessen-Darmstädter »mit einer Art von Geringschätzung herabsehen«.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 724. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/203>, abgerufen am 28.03.2024.