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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
ist das, was wir als Weltanschauung zu bezeichnen haben.1) Wenn
Herr Virchow und Andere rühmen, unser Jahrhundert "brauche keine
Philosophie", denn es sei "das Zeitalter der Wissenschaft", so preisen
sie ganz einfach die allmähliche Rückkehr aus Gestaltung zu Chaos.
Doch straft sie die Geschichte der Wissenschaft Lügen, denn nie war
Wissenschaft anschaulicher als in unserem Jahrhundert und das kann
immer nur unter Anlehnung an eine umfassende Weltanschauung (also
an Philosophie) geschehen; ja, man trieb die Verwechslung der Gebiete
so weit, dass Männer wie Ernst Haeckel förmliche Religionsgründer
wurden, dass Darwin immerfort mit einem Fuss in unverfälschter
Empirie, mit dem anderen in haarsträubend kühnen philosophischen
Voraussetzungen breitbeinig fortschreitet, und dass neun Zehntel der
lebenden Naturforscher so fest an Atome und an Äther glauben, wie
ein Maler aus dem Trecento an die kleine nackte Seele, die dem Mund
des Gestorbenen entfliegt. Ohne alle Weltanschauung wäre der Mensch
ohne jegliche Kultur: eine grosse zweifüssige Ameise. Über Religion
habe ich in diesem Buche schon so viel gesagt und auch an mehr als
einer Stelle auf ihre Bedeutung als Weltanschauung oder Bestandteil
einer Weltanschauung hingewiesen (S. 221 fg., 391 fg., u. s. w.), dass ich
das viele, was hier noch hinzuzufügen wäre, unterdrücken zu müssen
glaube. Es ist unmöglich, echte, gelebte Weltanschauung von echter,
gelebter Religion zu trennen; die zwei Worte bezeichnen nicht zwei
verschiedene Dinge, sondern zwei Richtungen des Gemütes, zwei
Stimmungen. So sehen wir z. B. bei den kontemplativen Indern die
Religion fast ganz Weltanschauung werden, und folglich das Erkennen
ihren Mittelpunkt bilden, wogegen bei Männern der That (Paulus,
Franziskus, Luther) der Glaube die Achse der gesamten Weltan-
schauung ist und die philosophische Erkenntnis eine kaum beachtete
peripherische Grenzlinie bildet; der hier so grell in die Augen springende
Unterschied geht in Wirklichkeit gar nicht sehr tief, wogegen der
wirklich prinzipielle Unterschied der ist zwischen Idealismus und
Materialismus der Weltanschauung -- gleichviel ob Philosophie oder
Religion.2) Im betreffenden Abschnitt wird die Darstellung des Werdens
und Wachsens unserer germanischen Weltanschauung bis zu Kant,
hoffe ich, diese verschiedenen Verhältnisse ganz klar machen und
namentlich zeigen, wie Sittenlehre und Weltanschauung miteinander
verwachsen sind. Die Verbindungen nach unten zu, zwischen Welt-

1) Über ihre enge Verwandtschaft mit Kunst, siehe S. 54.
2) Siehe S. 234, 550, u. s. w.

Die Entstehung einer neuen Welt.
ist das, was wir als Weltanschauung zu bezeichnen haben.1) Wenn
Herr Virchow und Andere rühmen, unser Jahrhundert »brauche keine
Philosophie«, denn es sei »das Zeitalter der Wissenschaft«, so preisen
sie ganz einfach die allmähliche Rückkehr aus Gestaltung zu Chaos.
Doch straft sie die Geschichte der Wissenschaft Lügen, denn nie war
Wissenschaft anschaulicher als in unserem Jahrhundert und das kann
immer nur unter Anlehnung an eine umfassende Weltanschauung (also
an Philosophie) geschehen; ja, man trieb die Verwechslung der Gebiete
so weit, dass Männer wie Ernst Haeckel förmliche Religionsgründer
wurden, dass Darwin immerfort mit einem Fuss in unverfälschter
Empirie, mit dem anderen in haarsträubend kühnen philosophischen
Voraussetzungen breitbeinig fortschreitet, und dass neun Zehntel der
lebenden Naturforscher so fest an Atome und an Äther glauben, wie
ein Maler aus dem Trecento an die kleine nackte Seele, die dem Mund
des Gestorbenen entfliegt. Ohne alle Weltanschauung wäre der Mensch
ohne jegliche Kultur: eine grosse zweifüssige Ameise. Über Religion
habe ich in diesem Buche schon so viel gesagt und auch an mehr als
einer Stelle auf ihre Bedeutung als Weltanschauung oder Bestandteil
einer Weltanschauung hingewiesen (S. 221 fg., 391 fg., u. s. w.), dass ich
das viele, was hier noch hinzuzufügen wäre, unterdrücken zu müssen
glaube. Es ist unmöglich, echte, gelebte Weltanschauung von echter,
gelebter Religion zu trennen; die zwei Worte bezeichnen nicht zwei
verschiedene Dinge, sondern zwei Richtungen des Gemütes, zwei
Stimmungen. So sehen wir z. B. bei den kontemplativen Indern die
Religion fast ganz Weltanschauung werden, und folglich das Erkennen
ihren Mittelpunkt bilden, wogegen bei Männern der That (Paulus,
Franziskus, Luther) der Glaube die Achse der gesamten Weltan-
schauung ist und die philosophische Erkenntnis eine kaum beachtete
peripherische Grenzlinie bildet; der hier so grell in die Augen springende
Unterschied geht in Wirklichkeit gar nicht sehr tief, wogegen der
wirklich prinzipielle Unterschied der ist zwischen Idealismus und
Materialismus der Weltanschauung — gleichviel ob Philosophie oder
Religion.2) Im betreffenden Abschnitt wird die Darstellung des Werdens
und Wachsens unserer germanischen Weltanschauung bis zu Kant,
hoffe ich, diese verschiedenen Verhältnisse ganz klar machen und
namentlich zeigen, wie Sittenlehre und Weltanschauung miteinander
verwachsen sind. Die Verbindungen nach unten zu, zwischen Welt-

1) Über ihre enge Verwandtschaft mit Kunst, siehe S. 54.
2) Siehe S. 234, 550, u. s. w.
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[738/0217] Die Entstehung einer neuen Welt. ist das, was wir als Weltanschauung zu bezeichnen haben. 1) Wenn Herr Virchow und Andere rühmen, unser Jahrhundert »brauche keine Philosophie«, denn es sei »das Zeitalter der Wissenschaft«, so preisen sie ganz einfach die allmähliche Rückkehr aus Gestaltung zu Chaos. Doch straft sie die Geschichte der Wissenschaft Lügen, denn nie war Wissenschaft anschaulicher als in unserem Jahrhundert und das kann immer nur unter Anlehnung an eine umfassende Weltanschauung (also an Philosophie) geschehen; ja, man trieb die Verwechslung der Gebiete so weit, dass Männer wie Ernst Haeckel förmliche Religionsgründer wurden, dass Darwin immerfort mit einem Fuss in unverfälschter Empirie, mit dem anderen in haarsträubend kühnen philosophischen Voraussetzungen breitbeinig fortschreitet, und dass neun Zehntel der lebenden Naturforscher so fest an Atome und an Äther glauben, wie ein Maler aus dem Trecento an die kleine nackte Seele, die dem Mund des Gestorbenen entfliegt. Ohne alle Weltanschauung wäre der Mensch ohne jegliche Kultur: eine grosse zweifüssige Ameise. Über Religion habe ich in diesem Buche schon so viel gesagt und auch an mehr als einer Stelle auf ihre Bedeutung als Weltanschauung oder Bestandteil einer Weltanschauung hingewiesen (S. 221 fg., 391 fg., u. s. w.), dass ich das viele, was hier noch hinzuzufügen wäre, unterdrücken zu müssen glaube. Es ist unmöglich, echte, gelebte Weltanschauung von echter, gelebter Religion zu trennen; die zwei Worte bezeichnen nicht zwei verschiedene Dinge, sondern zwei Richtungen des Gemütes, zwei Stimmungen. So sehen wir z. B. bei den kontemplativen Indern die Religion fast ganz Weltanschauung werden, und folglich das Erkennen ihren Mittelpunkt bilden, wogegen bei Männern der That (Paulus, Franziskus, Luther) der Glaube die Achse der gesamten Weltan- schauung ist und die philosophische Erkenntnis eine kaum beachtete peripherische Grenzlinie bildet; der hier so grell in die Augen springende Unterschied geht in Wirklichkeit gar nicht sehr tief, wogegen der wirklich prinzipielle Unterschied der ist zwischen Idealismus und Materialismus der Weltanschauung — gleichviel ob Philosophie oder Religion. 2) Im betreffenden Abschnitt wird die Darstellung des Werdens und Wachsens unserer germanischen Weltanschauung bis zu Kant, hoffe ich, diese verschiedenen Verhältnisse ganz klar machen und namentlich zeigen, wie Sittenlehre und Weltanschauung miteinander verwachsen sind. Die Verbindungen nach unten zu, zwischen Welt- 1) Über ihre enge Verwandtschaft mit Kunst, siehe S. 54. 2) Siehe S. 234, 550, u. s. w.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 738. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/217>, abgerufen am 24.04.2024.