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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
nachlässigung des einen oder anderen der sieben Elemente. Keine
Betrachtung ist geeigneter, uns über unsere individuelle Eigenart ge-
nauen Aufschluss zu geben.

Ein sehr extremes und darum lehrreiches Beispiel ist wie immer
das Judentum. Hier fehlten Wissen und Kultur, also die beiden
Endpunkte, eigentlich ganz: auf keinem Gebiete Entdeckungen, Wissen-
schaft verpönt (ausser wo die Medizin eine lohnende Industrie war),
Kunst abwesend, Religion ein Rudiment, Philosophie ein Wiederkauen
missverstandener helleno-arabischer Formeln und Zaubersprüche. Da-
gegen eine abnorme Entwickelung des Verständnisses für wirtschaftliche
Verhältnisse, eine zwar geringe Erfindungsgabe auf dem Gebiete der
Industrie, doch höchst geschickte Ausbeutung ihres Wertes, eine bei-
spiellos vereinfachte Politik, indem die Kirche das Monopol sämtlicher
willkürlicher Bestimmungen an sich gerissen hatte. Ich weiss nicht wer --
ich glaube es war Gobineau -- die Juden eine anticivilisatorische Macht
genannt hat; sie waren im Gegenteil, und mit ihnen alle semitischen
Bastarde, die Phönizier, die Karthager u. s. w., eine ausschliesslich civili-
satorische Macht. Daher das eigentümlich Unbefriedigende dieser semi-
tischen Erscheinungen, denn sie haben weder Wurzel noch Blüten: weder
haftet ihre Civilisation in einem langsam von ihnen selbst erworbenen,
also wirklich eigenen Wissen, noch entfaltet sie sich zu einer individuellen,
eigenen, notwendigen Kultur. Das genau entgegengesetzte Extrem er-
blicken wir in den Indoariern, bei denen die Civilisation gewissermassen
auf ein Minimum reduziert erscheint: die Industrie von Parias betrieben,
die Wirtschaft so einfach wie möglich belassen, die Politik nie zu grossen
und kühnen Gebilden sich aufraffend;1) dagegen erstaunlicher Fleiss
und Erfolg in den Wissenschaften (wenigstens in einigen) und eine
tropische Entfaltung der Kultur (Weltanschauung und Dichtkunst). Über
den Reichtum und die Mannigfaltigkeit indoarischer Weltanschauung,
über die Erhabenheit indoarischer Sittenlehre brauche ich kein Wort
mehr zu verlieren -- im Verlaufe dieses ganzen Werkes habe ich die
Augen des Lesers auf sie gerichtet gehalten. In der Kunst haben die
Indoarier zwar nicht entfernt die Gestaltungskraft der Hellenen besessen,
doch ist ihre poetische Litteratur die umfangreichste der Welt, in vielen
Stücken von höchster Schönheit, und von so unerschöpflichem Er-
findungsreichtum, dass die indischen Gelehrten z. B. 36 Arten des
Dramas unterscheiden müssen, um Ordnung in diesen einen Zweig

1) Oder erst sehr spät, zu spät.

Die Entstehung einer neuen Welt.
nachlässigung des einen oder anderen der sieben Elemente. Keine
Betrachtung ist geeigneter, uns über unsere individuelle Eigenart ge-
nauen Aufschluss zu geben.

Ein sehr extremes und darum lehrreiches Beispiel ist wie immer
das Judentum. Hier fehlten Wissen und Kultur, also die beiden
Endpunkte, eigentlich ganz: auf keinem Gebiete Entdeckungen, Wissen-
schaft verpönt (ausser wo die Medizin eine lohnende Industrie war),
Kunst abwesend, Religion ein Rudiment, Philosophie ein Wiederkauen
missverstandener helleno-arabischer Formeln und Zaubersprüche. Da-
gegen eine abnorme Entwickelung des Verständnisses für wirtschaftliche
Verhältnisse, eine zwar geringe Erfindungsgabe auf dem Gebiete der
Industrie, doch höchst geschickte Ausbeutung ihres Wertes, eine bei-
spiellos vereinfachte Politik, indem die Kirche das Monopol sämtlicher
willkürlicher Bestimmungen an sich gerissen hatte. Ich weiss nicht wer —
ich glaube es war Gobineau — die Juden eine anticivilisatorische Macht
genannt hat; sie waren im Gegenteil, und mit ihnen alle semitischen
Bastarde, die Phönizier, die Karthager u. s. w., eine ausschliesslich civili-
satorische Macht. Daher das eigentümlich Unbefriedigende dieser semi-
tischen Erscheinungen, denn sie haben weder Wurzel noch Blüten: weder
haftet ihre Civilisation in einem langsam von ihnen selbst erworbenen,
also wirklich eigenen Wissen, noch entfaltet sie sich zu einer individuellen,
eigenen, notwendigen Kultur. Das genau entgegengesetzte Extrem er-
blicken wir in den Indoariern, bei denen die Civilisation gewissermassen
auf ein Minimum reduziert erscheint: die Industrie von Parias betrieben,
die Wirtschaft so einfach wie möglich belassen, die Politik nie zu grossen
und kühnen Gebilden sich aufraffend;1) dagegen erstaunlicher Fleiss
und Erfolg in den Wissenschaften (wenigstens in einigen) und eine
tropische Entfaltung der Kultur (Weltanschauung und Dichtkunst). Über
den Reichtum und die Mannigfaltigkeit indoarischer Weltanschauung,
über die Erhabenheit indoarischer Sittenlehre brauche ich kein Wort
mehr zu verlieren — im Verlaufe dieses ganzen Werkes habe ich die
Augen des Lesers auf sie gerichtet gehalten. In der Kunst haben die
Indoarier zwar nicht entfernt die Gestaltungskraft der Hellenen besessen,
doch ist ihre poetische Litteratur die umfangreichste der Welt, in vielen
Stücken von höchster Schönheit, und von so unerschöpflichem Er-
findungsreichtum, dass die indischen Gelehrten z. B. 36 Arten des
Dramas unterscheiden müssen, um Ordnung in diesen einen Zweig

1) Oder erst sehr spät, zu spät.
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[740/0219] Die Entstehung einer neuen Welt. nachlässigung des einen oder anderen der sieben Elemente. Keine Betrachtung ist geeigneter, uns über unsere individuelle Eigenart ge- nauen Aufschluss zu geben. Ein sehr extremes und darum lehrreiches Beispiel ist wie immer das Judentum. Hier fehlten Wissen und Kultur, also die beiden Endpunkte, eigentlich ganz: auf keinem Gebiete Entdeckungen, Wissen- schaft verpönt (ausser wo die Medizin eine lohnende Industrie war), Kunst abwesend, Religion ein Rudiment, Philosophie ein Wiederkauen missverstandener helleno-arabischer Formeln und Zaubersprüche. Da- gegen eine abnorme Entwickelung des Verständnisses für wirtschaftliche Verhältnisse, eine zwar geringe Erfindungsgabe auf dem Gebiete der Industrie, doch höchst geschickte Ausbeutung ihres Wertes, eine bei- spiellos vereinfachte Politik, indem die Kirche das Monopol sämtlicher willkürlicher Bestimmungen an sich gerissen hatte. Ich weiss nicht wer — ich glaube es war Gobineau — die Juden eine anticivilisatorische Macht genannt hat; sie waren im Gegenteil, und mit ihnen alle semitischen Bastarde, die Phönizier, die Karthager u. s. w., eine ausschliesslich civili- satorische Macht. Daher das eigentümlich Unbefriedigende dieser semi- tischen Erscheinungen, denn sie haben weder Wurzel noch Blüten: weder haftet ihre Civilisation in einem langsam von ihnen selbst erworbenen, also wirklich eigenen Wissen, noch entfaltet sie sich zu einer individuellen, eigenen, notwendigen Kultur. Das genau entgegengesetzte Extrem er- blicken wir in den Indoariern, bei denen die Civilisation gewissermassen auf ein Minimum reduziert erscheint: die Industrie von Parias betrieben, die Wirtschaft so einfach wie möglich belassen, die Politik nie zu grossen und kühnen Gebilden sich aufraffend; 1) dagegen erstaunlicher Fleiss und Erfolg in den Wissenschaften (wenigstens in einigen) und eine tropische Entfaltung der Kultur (Weltanschauung und Dichtkunst). Über den Reichtum und die Mannigfaltigkeit indoarischer Weltanschauung, über die Erhabenheit indoarischer Sittenlehre brauche ich kein Wort mehr zu verlieren — im Verlaufe dieses ganzen Werkes habe ich die Augen des Lesers auf sie gerichtet gehalten. In der Kunst haben die Indoarier zwar nicht entfernt die Gestaltungskraft der Hellenen besessen, doch ist ihre poetische Litteratur die umfangreichste der Welt, in vielen Stücken von höchster Schönheit, und von so unerschöpflichem Er- findungsreichtum, dass die indischen Gelehrten z. B. 36 Arten des Dramas unterscheiden müssen, um Ordnung in diesen einen Zweig 1) Oder erst sehr spät, zu spät.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 740. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/219>, abgerufen am 23.04.2024.