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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
Sinne), so doch Geschmack. Ob der Chinese auch nur bescheidene
Anlagen zur Erfindung besitzt, wird zwar täglich fraglicher, doch fasst
er wenigstens das auf, was ihm von Anderen übermittelt wird, in-
sofern sein phantasieloser Geist der Sache irgend eine utilitaristische
Bedeutung abgewinnen kann, und so besass er denn lange vor uns
das Papier, den Buchdruck (in primitiver Gestalt), das Schiesspulver, den
Kompass und hundert andere Dinge.1) Mit seiner Industrie hält seine
Gelehrsamkeit Schritt. Während wir uns mit sechzehnbändigen Kon-
versationslexika durchschlagen müssen, besitzen -- ich weiss nicht, ob ich
schreiben soll die "glücklichen" oder die "unglücklichen" -- Chinesen
gedruckte Encyklopädien von 1000 Bänden!2) Sie besitzen so ausführliche
Geschichtsannalen wie kein zweites Volk der Erde, eine naturgeschicht-
liche Litteratur, welche die unsere an Massenhaftigkeit übertrifft, ganze
Bibliotheken von moralischen Lehrbüchern u. s. w. ad infinitum. Und
was nützt ihnen das alles? Sie erfinden (?) das Schiesspulver und werden
von jeder kleinsten Nation besiegt und beherrscht; sie besitzen 200 Jahre
vor Christus ein Surrogat für das Papier, nicht lange darauf das Papier
selber, und bringen bis zur Stunde keinen Mann hervor, würdig darauf
zu schreiben; sie drucken vieltausendbändige Realencyklopädien und
wissen nichts, rein gar nichts; sie besitzen umständliche Geschichts-
annalen und gar keine Geschichte; sie schildern in bewundernswerter

1) Dass das Papier ebensowenig von den Chinesen wie von den Arabern,
sondern dass es von den arischen Persern erfunden wurde, steht heute fest (siehe
weiter unten, Abschnitt "Industrie"); Richthofen aber -- dessen Urteil durch seine
rein wissenschaftliche Schärfe und Unabhängigkeit von grossem Werte ist -- neigt
zu der Annahme, nichts was die Chinesen "an Kenntnissen und Civilisations-
methoden" besitzen, sei die Frucht des eigenen Ingeniums, sondern alles sei Im-
port. Er weist darauf hin, dass soweit unsere Nachrichten zurückreichen, die Chi-
nesen es nie verstanden, ihre eigenen wissenschaftlichen Instrumente zu gebrauchen
(siehe China, 1877, I, 390, 512 fg., etc.) und er kommt zu dem Ergebnis (S. 424 fg.),
die chinesische Civilisation sei in ihren Anfängen auf den früheren Kontakt mit
Ariern in Centralasien zurückzuführen. Höchst bemerkenswert in Bezug auf die
von mir vertretene These ist auch der detaillierte Nachweis, dass die erstaunlichen
kartographischen Leistungen der Chinesen nur so weit reichen, als die politische
Verwaltung ein praktisches Interesse daran hatte, sie auszubilden (China, I, 389);
jeder weitere Fortschritt war ausgeschlossen, da "reine Wissenschaft" ein Kultur-
gedanke ist.
2) Das ist die niedrigste Schätzung. Karl Gustav Carus behauptet in seiner
Schrift Über ungleiche Befähigung der verschiedenen Menschheitsstämme für höhere geistige
Entwickelung,
1849, S. 67, die umfassendste chinesische Encyklopädie zähle
78,731 Bände, wovon etwa 50 auf einen Band unserer üblichen Konversations-
lexika kämen.

Die Entstehung einer neuen Welt.
Sinne), so doch Geschmack. Ob der Chinese auch nur bescheidene
Anlagen zur Erfindung besitzt, wird zwar täglich fraglicher, doch fasst
er wenigstens das auf, was ihm von Anderen übermittelt wird, in-
sofern sein phantasieloser Geist der Sache irgend eine utilitaristische
Bedeutung abgewinnen kann, und so besass er denn lange vor uns
das Papier, den Buchdruck (in primitiver Gestalt), das Schiesspulver, den
Kompass und hundert andere Dinge.1) Mit seiner Industrie hält seine
Gelehrsamkeit Schritt. Während wir uns mit sechzehnbändigen Kon-
versationslexika durchschlagen müssen, besitzen — ich weiss nicht, ob ich
schreiben soll die »glücklichen« oder die »unglücklichen« — Chinesen
gedruckte Encyklopädien von 1000 Bänden!2) Sie besitzen so ausführliche
Geschichtsannalen wie kein zweites Volk der Erde, eine naturgeschicht-
liche Litteratur, welche die unsere an Massenhaftigkeit übertrifft, ganze
Bibliotheken von moralischen Lehrbüchern u. s. w. ad infinitum. Und
was nützt ihnen das alles? Sie erfinden (?) das Schiesspulver und werden
von jeder kleinsten Nation besiegt und beherrscht; sie besitzen 200 Jahre
vor Christus ein Surrogat für das Papier, nicht lange darauf das Papier
selber, und bringen bis zur Stunde keinen Mann hervor, würdig darauf
zu schreiben; sie drucken vieltausendbändige Realencyklopädien und
wissen nichts, rein gar nichts; sie besitzen umständliche Geschichts-
annalen und gar keine Geschichte; sie schildern in bewundernswerter

1) Dass das Papier ebensowenig von den Chinesen wie von den Arabern,
sondern dass es von den arischen Persern erfunden wurde, steht heute fest (siehe
weiter unten, Abschnitt »Industrie«); Richthofen aber — dessen Urteil durch seine
rein wissenschaftliche Schärfe und Unabhängigkeit von grossem Werte ist — neigt
zu der Annahme, nichts was die Chinesen »an Kenntnissen und Civilisations-
methoden« besitzen, sei die Frucht des eigenen Ingeniums, sondern alles sei Im-
port. Er weist darauf hin, dass soweit unsere Nachrichten zurückreichen, die Chi-
nesen es nie verstanden, ihre eigenen wissenschaftlichen Instrumente zu gebrauchen
(siehe China, 1877, I, 390, 512 fg., etc.) und er kommt zu dem Ergebnis (S. 424 fg.),
die chinesische Civilisation sei in ihren Anfängen auf den früheren Kontakt mit
Ariern in Centralasien zurückzuführen. Höchst bemerkenswert in Bezug auf die
von mir vertretene These ist auch der detaillierte Nachweis, dass die erstaunlichen
kartographischen Leistungen der Chinesen nur so weit reichen, als die politische
Verwaltung ein praktisches Interesse daran hatte, sie auszubilden (China, I, 389);
jeder weitere Fortschritt war ausgeschlossen, da »reine Wissenschaft« ein Kultur-
gedanke ist.
2) Das ist die niedrigste Schätzung. Karl Gustav Carus behauptet in seiner
Schrift Über ungleiche Befähigung der verschiedenen Menschheitsstämme für höhere geistige
Entwickelung,
1849, S. 67, die umfassendste chinesische Encyklopädie zähle
78,731 Bände, wovon etwa 50 auf einen Band unserer üblichen Konversations-
lexika kämen.
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[742/0221] Die Entstehung einer neuen Welt. Sinne), so doch Geschmack. Ob der Chinese auch nur bescheidene Anlagen zur Erfindung besitzt, wird zwar täglich fraglicher, doch fasst er wenigstens das auf, was ihm von Anderen übermittelt wird, in- sofern sein phantasieloser Geist der Sache irgend eine utilitaristische Bedeutung abgewinnen kann, und so besass er denn lange vor uns das Papier, den Buchdruck (in primitiver Gestalt), das Schiesspulver, den Kompass und hundert andere Dinge. 1) Mit seiner Industrie hält seine Gelehrsamkeit Schritt. Während wir uns mit sechzehnbändigen Kon- versationslexika durchschlagen müssen, besitzen — ich weiss nicht, ob ich schreiben soll die »glücklichen« oder die »unglücklichen« — Chinesen gedruckte Encyklopädien von 1000 Bänden! 2) Sie besitzen so ausführliche Geschichtsannalen wie kein zweites Volk der Erde, eine naturgeschicht- liche Litteratur, welche die unsere an Massenhaftigkeit übertrifft, ganze Bibliotheken von moralischen Lehrbüchern u. s. w. ad infinitum. Und was nützt ihnen das alles? Sie erfinden (?) das Schiesspulver und werden von jeder kleinsten Nation besiegt und beherrscht; sie besitzen 200 Jahre vor Christus ein Surrogat für das Papier, nicht lange darauf das Papier selber, und bringen bis zur Stunde keinen Mann hervor, würdig darauf zu schreiben; sie drucken vieltausendbändige Realencyklopädien und wissen nichts, rein gar nichts; sie besitzen umständliche Geschichts- annalen und gar keine Geschichte; sie schildern in bewundernswerter 1) Dass das Papier ebensowenig von den Chinesen wie von den Arabern, sondern dass es von den arischen Persern erfunden wurde, steht heute fest (siehe weiter unten, Abschnitt »Industrie«); Richthofen aber — dessen Urteil durch seine rein wissenschaftliche Schärfe und Unabhängigkeit von grossem Werte ist — neigt zu der Annahme, nichts was die Chinesen »an Kenntnissen und Civilisations- methoden« besitzen, sei die Frucht des eigenen Ingeniums, sondern alles sei Im- port. Er weist darauf hin, dass soweit unsere Nachrichten zurückreichen, die Chi- nesen es nie verstanden, ihre eigenen wissenschaftlichen Instrumente zu gebrauchen (siehe China, 1877, I, 390, 512 fg., etc.) und er kommt zu dem Ergebnis (S. 424 fg.), die chinesische Civilisation sei in ihren Anfängen auf den früheren Kontakt mit Ariern in Centralasien zurückzuführen. Höchst bemerkenswert in Bezug auf die von mir vertretene These ist auch der detaillierte Nachweis, dass die erstaunlichen kartographischen Leistungen der Chinesen nur so weit reichen, als die politische Verwaltung ein praktisches Interesse daran hatte, sie auszubilden (China, I, 389); jeder weitere Fortschritt war ausgeschlossen, da »reine Wissenschaft« ein Kultur- gedanke ist. 2) Das ist die niedrigste Schätzung. Karl Gustav Carus behauptet in seiner Schrift Über ungleiche Befähigung der verschiedenen Menschheitsstämme für höhere geistige Entwickelung, 1849, S. 67, die umfassendste chinesische Encyklopädie zähle 78,731 Bände, wovon etwa 50 auf einen Band unserer üblichen Konversations- lexika kämen.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 742. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/221>, abgerufen am 25.04.2024.