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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Geschichtlicher Überblick.
Civilisation zu erziehen, ebenso wenig wird es jemals gelingen, dem
Chinesen Kultur aufzupfropfen. Ein Jeder von uns bleibt eben was
er ist und war; was wir fälschlich Fortschritt nennen, ist die Ent-
faltung eines bereits Vorhandenen; wo es nichts giebt, verliert der
König seine Rechte. Auch etwas Anderes zeigt dieses Beispiel mit
besonderer Deutlichkeit, und darauf möchte ich, zur Ergänzung des
vorhin über die Inder Gesagten, besonderen Nachdruck legen: dass
es nämlich ohne Kultur, d. h. ohne jene Anlage des Geistes zu all-
verbindender, allbeleuchtender Weltanschauung kein eigentliches
Wissen giebt!
Wir können und wir sollen Wissenschaft und Philo-
sophie getrennt halten; gewiss; doch sehen wir, dass ohne tiefes
Denken keine Möglichkeit umfassender Wissenschaft entsteht; ein aus-
schliesslich praktisches, auf Thatsachen und auf Industrie gerichtetes
Wissen entbehrt jeglicher Bedeutung.1) Eine wichtige Einsicht! welche
durch unsere Erfahrung bei den Indoariern die Ergänzung erhält, dass,
umgekehrt, bei stockender Zufuhr des Wissensmaterials das höhere
Kulturleben ebenfalls stockt und sich verknöchert, was, wie mich
dünkt, durch die Eintrocknung der Schöpferkraft verursacht wird; denn
das Mysterium des Daseins bleibt zwar immer dasselbe, ob wir auf
wenig oder auf vieles schauen, und in jedem Augenblick deckt sich
der Umkreis des Unerforschlichen ganz genau mit dem Umkreis des
Erforschten, doch stumpft sich die fragende Verwunderung und mit
ihr zugleich die schöpferische Phantasie an unverändert Altbekanntem
ab. Hierzu ein Beleg. Jene grossen Mythenerfinder, die Sumero-
Akkadier, waren hervorragende Arbeiter auf dem Gebiete der Natur-
beobachtung und der mathematischen Wissenschaft; ihre astronomischen
Entdeckungen zeugen von erstaunlicher Präcision, also von nüchtern
sicherer Beobachtung; doch, trotz aller Nüchternheit, regten offenbar
die Entdeckungen die Phantasie mächtig an, und so sehen wir denn
bei diesem Volke Wissenschaft und Mythenbildung Hand in Hand
gehen. Wie praktisch es gewesen sein muss, geht aus den grund-
legenden wirtschaftlichen und politischen Einrichtungen hervor, die sich
auf uns vererbt haben: die Einteilung des Jahres nach der Stellung der
Sonne, die Einrichtung der Woche, die Einführung eines Duodezimal-
systems für den Verkehr beim Wiegen, Zählen u. s. w.; doch bezeugen
alle diese Gedanken eine ungewöhnliche Kraft der schöpferischen

1) Wie J. J. Rousseau treffend sagt: "Les sciences regnent pour ainsi dire a la
Chine depuis deux mille ans, et n'y peuvent sortir de l'enfance
" (Lettre a M. de
Scheyb, 15. 7. 1756).
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 48

Geschichtlicher Überblick.
Civilisation zu erziehen, ebenso wenig wird es jemals gelingen, dem
Chinesen Kultur aufzupfropfen. Ein Jeder von uns bleibt eben was
er ist und war; was wir fälschlich Fortschritt nennen, ist die Ent-
faltung eines bereits Vorhandenen; wo es nichts giebt, verliert der
König seine Rechte. Auch etwas Anderes zeigt dieses Beispiel mit
besonderer Deutlichkeit, und darauf möchte ich, zur Ergänzung des
vorhin über die Inder Gesagten, besonderen Nachdruck legen: dass
es nämlich ohne Kultur, d. h. ohne jene Anlage des Geistes zu all-
verbindender, allbeleuchtender Weltanschauung kein eigentliches
Wissen giebt!
Wir können und wir sollen Wissenschaft und Philo-
sophie getrennt halten; gewiss; doch sehen wir, dass ohne tiefes
Denken keine Möglichkeit umfassender Wissenschaft entsteht; ein aus-
schliesslich praktisches, auf Thatsachen und auf Industrie gerichtetes
Wissen entbehrt jeglicher Bedeutung.1) Eine wichtige Einsicht! welche
durch unsere Erfahrung bei den Indoariern die Ergänzung erhält, dass,
umgekehrt, bei stockender Zufuhr des Wissensmaterials das höhere
Kulturleben ebenfalls stockt und sich verknöchert, was, wie mich
dünkt, durch die Eintrocknung der Schöpferkraft verursacht wird; denn
das Mysterium des Daseins bleibt zwar immer dasselbe, ob wir auf
wenig oder auf vieles schauen, und in jedem Augenblick deckt sich
der Umkreis des Unerforschlichen ganz genau mit dem Umkreis des
Erforschten, doch stumpft sich die fragende Verwunderung und mit
ihr zugleich die schöpferische Phantasie an unverändert Altbekanntem
ab. Hierzu ein Beleg. Jene grossen Mythenerfinder, die Sumero-
Akkadier, waren hervorragende Arbeiter auf dem Gebiete der Natur-
beobachtung und der mathematischen Wissenschaft; ihre astronomischen
Entdeckungen zeugen von erstaunlicher Präcision, also von nüchtern
sicherer Beobachtung; doch, trotz aller Nüchternheit, regten offenbar
die Entdeckungen die Phantasie mächtig an, und so sehen wir denn
bei diesem Volke Wissenschaft und Mythenbildung Hand in Hand
gehen. Wie praktisch es gewesen sein muss, geht aus den grund-
legenden wirtschaftlichen und politischen Einrichtungen hervor, die sich
auf uns vererbt haben: die Einteilung des Jahres nach der Stellung der
Sonne, die Einrichtung der Woche, die Einführung eines Duodezimal-
systems für den Verkehr beim Wiegen, Zählen u. s. w.; doch bezeugen
alle diese Gedanken eine ungewöhnliche Kraft der schöpferischen

1) Wie J. J. Rousseau treffend sagt: »Les sciences règnent pour ainsi dire à la
Chine depuis deux mille ans, et n’y peuvent sortir de l’enfance
« (Lettre à M. de
Scheyb, 15. 7. 1756).
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 48
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[745/0224] Geschichtlicher Überblick. Civilisation zu erziehen, ebenso wenig wird es jemals gelingen, dem Chinesen Kultur aufzupfropfen. Ein Jeder von uns bleibt eben was er ist und war; was wir fälschlich Fortschritt nennen, ist die Ent- faltung eines bereits Vorhandenen; wo es nichts giebt, verliert der König seine Rechte. Auch etwas Anderes zeigt dieses Beispiel mit besonderer Deutlichkeit, und darauf möchte ich, zur Ergänzung des vorhin über die Inder Gesagten, besonderen Nachdruck legen: dass es nämlich ohne Kultur, d. h. ohne jene Anlage des Geistes zu all- verbindender, allbeleuchtender Weltanschauung kein eigentliches Wissen giebt! Wir können und wir sollen Wissenschaft und Philo- sophie getrennt halten; gewiss; doch sehen wir, dass ohne tiefes Denken keine Möglichkeit umfassender Wissenschaft entsteht; ein aus- schliesslich praktisches, auf Thatsachen und auf Industrie gerichtetes Wissen entbehrt jeglicher Bedeutung. 1) Eine wichtige Einsicht! welche durch unsere Erfahrung bei den Indoariern die Ergänzung erhält, dass, umgekehrt, bei stockender Zufuhr des Wissensmaterials das höhere Kulturleben ebenfalls stockt und sich verknöchert, was, wie mich dünkt, durch die Eintrocknung der Schöpferkraft verursacht wird; denn das Mysterium des Daseins bleibt zwar immer dasselbe, ob wir auf wenig oder auf vieles schauen, und in jedem Augenblick deckt sich der Umkreis des Unerforschlichen ganz genau mit dem Umkreis des Erforschten, doch stumpft sich die fragende Verwunderung und mit ihr zugleich die schöpferische Phantasie an unverändert Altbekanntem ab. Hierzu ein Beleg. Jene grossen Mythenerfinder, die Sumero- Akkadier, waren hervorragende Arbeiter auf dem Gebiete der Natur- beobachtung und der mathematischen Wissenschaft; ihre astronomischen Entdeckungen zeugen von erstaunlicher Präcision, also von nüchtern sicherer Beobachtung; doch, trotz aller Nüchternheit, regten offenbar die Entdeckungen die Phantasie mächtig an, und so sehen wir denn bei diesem Volke Wissenschaft und Mythenbildung Hand in Hand gehen. Wie praktisch es gewesen sein muss, geht aus den grund- legenden wirtschaftlichen und politischen Einrichtungen hervor, die sich auf uns vererbt haben: die Einteilung des Jahres nach der Stellung der Sonne, die Einrichtung der Woche, die Einführung eines Duodezimal- systems für den Verkehr beim Wiegen, Zählen u. s. w.; doch bezeugen alle diese Gedanken eine ungewöhnliche Kraft der schöpferischen 1) Wie J. J. Rousseau treffend sagt: »Les sciences règnent pour ainsi dire à la Chine depuis deux mille ans, et n’y peuvent sortir de l’enfance« (Lettre à M. de Scheyb, 15. 7. 1756). Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 48

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 745. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/224>, abgerufen am 28.03.2024.