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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Geschichtlicher Überblick.
Fleiss, Erfindung und -- last not least -- Ehrlichkeit sich die Hand
reichen?1) Bei uns bildet also Civilisation -- das gesamte Gebiet
der eigentlichen Civilisation -- den Mittelpunkt: ein guter Charakter-
zug, insofern er Bestand verspricht, ein nicht ganz unbedenklicher,
insofern er die Gefahr birgt, "Chinese zu werden", eine Gefahr, die
eine sehr reelle werden würde, wenn die nicht, oder kaum germanischen
Elemente unter uns jemals die Oberhand bekämen.2) Denn sofort
würde unser unauslöschlicher Wissenstrieb in den Dienst der blossen
Civilisation gestellt werden und damit -- wie in China -- dem
Banne ewiger Sterilität verfallen. Was einzig uns dagegen schützt,
ist das, was uns Würde und Grösse, Unsterblichkeit, ja -- wie die
alten Griechen zu sagen pflegten -- Göttlichkeit verleiht: unsere Kultur.
Diese besitzt aber in unserer Begabung nicht die überwiegende Be-
deutung, die ihr im Hellenentum zukam. Über letztere verweise ich
auf mein erstes Kapitel. Niemand wird behaupten können, dass bei
uns die Kunst das Leben gestalte, oder dass die Philosophie (in ihrem
edelsten Sinne als Weltanschauung) einen ähnlichen Anteil an dem
Leben unserer führenden Männer habe wie in Athen, geschweige in
Indien. Und das Schlimmste ist, dass diejenige Kulturanlage, welche,
nach zahllosen Erscheinungen des gesamten Slavokeltogermanentums
zu urteilen, bei uns die entwickelteste ist (zugleich ein reichlicher Er-
satz für das, was der Mehrzahl unter uns an künstlerischer und meta-
physischer Begabung abgehen mag), ich meine die Religion, es
niemals vermocht hat, die Zwangsjacke abzureissen, die ihr -- gleich
bei dem Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte -- von den un-
würdigen Händen des Völkerchaos aufgezwungen wurde. In Jesus
Christus hatte das absolute religiöse Genie die Welt betreten: Keiner
war so geschaffen, diese göttliche Stimme zu vernehmen wie der
Germane; die grössten Verbreiter des Evangeliums durch Europa sind
alle Germanen, und das ganze germanische Volk greift gleich, wie
schon das Beispiel der rauhen Goten zeigt (S. 513), zu den Worten

1) Siehe S. 137 fg.
2) Speziell der Deutsche neigt in gar manchen Dingen, z. B. in seiner
Sammelwut, in seinem Anhäufen von Material über Material, in seiner Neigung,
den Geist über dem Buchstaben zu vernachlässigen, u. s. w. bedenklich zum
Chinesentum. Das war schon früh aufgefallen und Goethe erzählte Soret lachend
von einem Globus aus der Zeit Karl's V., auf dem China zur Erläuterung die In-
schrift trägt: "die Chinesen sind ein Volk, das sehr viele Ähnlichkeit mit den
Deutschen hat!" (Eckermann, 26. April 1823).

Geschichtlicher Überblick.
Fleiss, Erfindung und — last not least — Ehrlichkeit sich die Hand
reichen?1) Bei uns bildet also Civilisation — das gesamte Gebiet
der eigentlichen Civilisation — den Mittelpunkt: ein guter Charakter-
zug, insofern er Bestand verspricht, ein nicht ganz unbedenklicher,
insofern er die Gefahr birgt, »Chinese zu werden«, eine Gefahr, die
eine sehr reelle werden würde, wenn die nicht, oder kaum germanischen
Elemente unter uns jemals die Oberhand bekämen.2) Denn sofort
würde unser unauslöschlicher Wissenstrieb in den Dienst der blossen
Civilisation gestellt werden und damit — wie in China — dem
Banne ewiger Sterilität verfallen. Was einzig uns dagegen schützt,
ist das, was uns Würde und Grösse, Unsterblichkeit, ja — wie die
alten Griechen zu sagen pflegten — Göttlichkeit verleiht: unsere Kultur.
Diese besitzt aber in unserer Begabung nicht die überwiegende Be-
deutung, die ihr im Hellenentum zukam. Über letztere verweise ich
auf mein erstes Kapitel. Niemand wird behaupten können, dass bei
uns die Kunst das Leben gestalte, oder dass die Philosophie (in ihrem
edelsten Sinne als Weltanschauung) einen ähnlichen Anteil an dem
Leben unserer führenden Männer habe wie in Athen, geschweige in
Indien. Und das Schlimmste ist, dass diejenige Kulturanlage, welche,
nach zahllosen Erscheinungen des gesamten Slavokeltogermanentums
zu urteilen, bei uns die entwickelteste ist (zugleich ein reichlicher Er-
satz für das, was der Mehrzahl unter uns an künstlerischer und meta-
physischer Begabung abgehen mag), ich meine die Religion, es
niemals vermocht hat, die Zwangsjacke abzureissen, die ihr — gleich
bei dem Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte — von den un-
würdigen Händen des Völkerchaos aufgezwungen wurde. In Jesus
Christus hatte das absolute religiöse Genie die Welt betreten: Keiner
war so geschaffen, diese göttliche Stimme zu vernehmen wie der
Germane; die grössten Verbreiter des Evangeliums durch Europa sind
alle Germanen, und das ganze germanische Volk greift gleich, wie
schon das Beispiel der rauhen Goten zeigt (S. 513), zu den Worten

1) Siehe S. 137 fg.
2) Speziell der Deutsche neigt in gar manchen Dingen, z. B. in seiner
Sammelwut, in seinem Anhäufen von Material über Material, in seiner Neigung,
den Geist über dem Buchstaben zu vernachlässigen, u. s. w. bedenklich zum
Chinesentum. Das war schon früh aufgefallen und Goethe erzählte Soret lachend
von einem Globus aus der Zeit Karl’s V., auf dem China zur Erläuterung die In-
schrift trägt: »die Chinesen sind ein Volk, das sehr viele Ähnlichkeit mit den
Deutschen hat!« (Eckermann, 26. April 1823).
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[749/0228] Geschichtlicher Überblick. Fleiss, Erfindung und — last not least — Ehrlichkeit sich die Hand reichen? 1) Bei uns bildet also Civilisation — das gesamte Gebiet der eigentlichen Civilisation — den Mittelpunkt: ein guter Charakter- zug, insofern er Bestand verspricht, ein nicht ganz unbedenklicher, insofern er die Gefahr birgt, »Chinese zu werden«, eine Gefahr, die eine sehr reelle werden würde, wenn die nicht, oder kaum germanischen Elemente unter uns jemals die Oberhand bekämen. 2) Denn sofort würde unser unauslöschlicher Wissenstrieb in den Dienst der blossen Civilisation gestellt werden und damit — wie in China — dem Banne ewiger Sterilität verfallen. Was einzig uns dagegen schützt, ist das, was uns Würde und Grösse, Unsterblichkeit, ja — wie die alten Griechen zu sagen pflegten — Göttlichkeit verleiht: unsere Kultur. Diese besitzt aber in unserer Begabung nicht die überwiegende Be- deutung, die ihr im Hellenentum zukam. Über letztere verweise ich auf mein erstes Kapitel. Niemand wird behaupten können, dass bei uns die Kunst das Leben gestalte, oder dass die Philosophie (in ihrem edelsten Sinne als Weltanschauung) einen ähnlichen Anteil an dem Leben unserer führenden Männer habe wie in Athen, geschweige in Indien. Und das Schlimmste ist, dass diejenige Kulturanlage, welche, nach zahllosen Erscheinungen des gesamten Slavokeltogermanentums zu urteilen, bei uns die entwickelteste ist (zugleich ein reichlicher Er- satz für das, was der Mehrzahl unter uns an künstlerischer und meta- physischer Begabung abgehen mag), ich meine die Religion, es niemals vermocht hat, die Zwangsjacke abzureissen, die ihr — gleich bei dem Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte — von den un- würdigen Händen des Völkerchaos aufgezwungen wurde. In Jesus Christus hatte das absolute religiöse Genie die Welt betreten: Keiner war so geschaffen, diese göttliche Stimme zu vernehmen wie der Germane; die grössten Verbreiter des Evangeliums durch Europa sind alle Germanen, und das ganze germanische Volk greift gleich, wie schon das Beispiel der rauhen Goten zeigt (S. 513), zu den Worten 1) Siehe S. 137 fg. 2) Speziell der Deutsche neigt in gar manchen Dingen, z. B. in seiner Sammelwut, in seinem Anhäufen von Material über Material, in seiner Neigung, den Geist über dem Buchstaben zu vernachlässigen, u. s. w. bedenklich zum Chinesentum. Das war schon früh aufgefallen und Goethe erzählte Soret lachend von einem Globus aus der Zeit Karl’s V., auf dem China zur Erläuterung die In- schrift trägt: »die Chinesen sind ein Volk, das sehr viele Ähnlichkeit mit den Deutschen hat!« (Eckermann, 26. April 1823).

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 749. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/228>, abgerufen am 19.04.2024.