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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Entdeckung.
Dem auf diesem Gebiete minder Kundigen möchte ich Gilbert zur
Betrachtung empfehlen, den Mann, der zu Ende des 16. Jahrhunderts
(im selben Augenblick, da Shakespeare seine Dramen schrieb) durch
schier endlose Versuche die Grundlage zu unserer Kentnis der
Elektricität und des Magnetismus legte. Von einer praktischen An-
wendung dieser Kenntnisse selbst in fernsten Jahrhunderten konnte
damals Niemand träumen; es handelte sich überhaupt um so geheim-
nisvolle Dinge, dass man sie bis auf Gilbert entweder gar nicht beachtet
und beobachtet, oder nur zum philosophischen Hocuspocus gebraucht
hatte. Und dieser eine Mann, der als Ausgangspunkt nur die alt-
bekannten Beobachtungen über den geriebenen Bernstein und das
Magneteisen vorfand, experimentierte so unermüdlich und verstand
es, in so genial unbefangener Weise die Natur auszufragen, dass er
alle grundlegenden Thatsachen in Bezug auf den Magnetismus ein für
allemal feststellte und dass er die Elektricität (das Wort stammt von
ihm) als ein vom Magnetismus unterschiedenes Phänomen erkannte
und ihre Ergründung anbahnte.

An dieses Beispiel Gilbert's können wir nun eine UnterscheidungDie Natur als
Lehrmeisterin.

anknüpfen, die ich schon kurz begründet habe bei der Aufstellung meiner
Tafel und die ich vorhin noch einmal bei der Erwähnung von Goethe's
Unterscheidung zwischen dem, was ausser uns und dem, was in uns ist,
flüchtig berührte, deren Bedeutung aber aus der Praxis klarer als aus theo-
retischen Erwägungen hervorgehen wird; sie ist für die rationelle Auf-
fassung der Geschichte germanischer Entdeckungen wesentlich: ich meine
die Unterscheidung zwischen Entdeckung und Wissenschaft. Nichts
wirk[t] hier aufklärender als ein vergleichender Blick auf die Hellenen.
Die Befähigung der Hellenen für die eigentliche Wissenschaft war gross,
bedeutend grösser, glaube ich, als die unsere (man denke nur an
Demokrit, Aristoteles, Euklid, Aristarch u. s. w.); ihre Befähigung zur
Entdeckung war dagegen auffallend gering. Auch hier ist das einfachste
Beispiel zugleich das belehrendste. Pytheas, der griechische Entdeckungs-

nie ein weisses Hemd besessen hat, viel weniger ein Paar Handschuhe; nur wenn
es sein musste, besuchte er vorübergehend eine Stadt; gegen alle Kirchen hatte
er eine unüberwindliche Abneigung. Das Geld war ihm an und für sich gleich-
gültig, er schätzte es nur als Bundesgenosse in seinem grossen Lebenswerk: dem
Kampf gegen die Wüste.
Befragt, antwortete er: "Nicht das Haben, sondern
das Erkämpfen macht mir Freude". Ein echter Germane! Würdig seines Lands-
mannes, Shakespeare:
Things won are done, joy's soul lies in the doing.

Entdeckung.
Dem auf diesem Gebiete minder Kundigen möchte ich Gilbert zur
Betrachtung empfehlen, den Mann, der zu Ende des 16. Jahrhunderts
(im selben Augenblick, da Shakespeare seine Dramen schrieb) durch
schier endlose Versuche die Grundlage zu unserer Kentnis der
Elektricität und des Magnetismus legte. Von einer praktischen An-
wendung dieser Kenntnisse selbst in fernsten Jahrhunderten konnte
damals Niemand träumen; es handelte sich überhaupt um so geheim-
nisvolle Dinge, dass man sie bis auf Gilbert entweder gar nicht beachtet
und beobachtet, oder nur zum philosophischen Hocuspocus gebraucht
hatte. Und dieser eine Mann, der als Ausgangspunkt nur die alt-
bekannten Beobachtungen über den geriebenen Bernstein und das
Magneteisen vorfand, experimentierte so unermüdlich und verstand
es, in so genial unbefangener Weise die Natur auszufragen, dass er
alle grundlegenden Thatsachen in Bezug auf den Magnetismus ein für
allemal feststellte und dass er die Elektricität (das Wort stammt von
ihm) als ein vom Magnetismus unterschiedenes Phänomen erkannte
und ihre Ergründung anbahnte.

An dieses Beispiel Gilbert’s können wir nun eine UnterscheidungDie Natur als
Lehrmeisterin.

anknüpfen, die ich schon kurz begründet habe bei der Aufstellung meiner
Tafel und die ich vorhin noch einmal bei der Erwähnung von Goethe’s
Unterscheidung zwischen dem, was ausser uns und dem, was in uns ist,
flüchtig berührte, deren Bedeutung aber aus der Praxis klarer als aus theo-
retischen Erwägungen hervorgehen wird; sie ist für die rationelle Auf-
fassung der Geschichte germanischer Entdeckungen wesentlich: ich meine
die Unterscheidung zwischen Entdeckung und Wissenschaft. Nichts
wirk[t] hier aufklärender als ein vergleichender Blick auf die Hellenen.
Die Befähigung der Hellenen für die eigentliche Wissenschaft war gross,
bedeutend grösser, glaube ich, als die unsere (man denke nur an
Demokrit, Aristoteles, Euklid, Aristarch u. s. w.); ihre Befähigung zur
Entdeckung war dagegen auffallend gering. Auch hier ist das einfachste
Beispiel zugleich das belehrendste. Pytheas, der griechische Entdeckungs-

nie ein weisses Hemd besessen hat, viel weniger ein Paar Handschuhe; nur wenn
es sein musste, besuchte er vorübergehend eine Stadt; gegen alle Kirchen hatte
er eine unüberwindliche Abneigung. Das Geld war ihm an und für sich gleich-
gültig, er schätzte es nur als Bundesgenosse in seinem grossen Lebenswerk: dem
Kampf gegen die Wüste.
Befragt, antwortete er: »Nicht das Haben, sondern
das Erkämpfen macht mir Freude«. Ein echter Germane! Würdig seines Lands-
mannes, Shakespeare:
Things won are done, joy’s soul lies in the doing.
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[759/0238] Entdeckung. Dem auf diesem Gebiete minder Kundigen möchte ich Gilbert zur Betrachtung empfehlen, den Mann, der zu Ende des 16. Jahrhunderts (im selben Augenblick, da Shakespeare seine Dramen schrieb) durch schier endlose Versuche die Grundlage zu unserer Kentnis der Elektricität und des Magnetismus legte. Von einer praktischen An- wendung dieser Kenntnisse selbst in fernsten Jahrhunderten konnte damals Niemand träumen; es handelte sich überhaupt um so geheim- nisvolle Dinge, dass man sie bis auf Gilbert entweder gar nicht beachtet und beobachtet, oder nur zum philosophischen Hocuspocus gebraucht hatte. Und dieser eine Mann, der als Ausgangspunkt nur die alt- bekannten Beobachtungen über den geriebenen Bernstein und das Magneteisen vorfand, experimentierte so unermüdlich und verstand es, in so genial unbefangener Weise die Natur auszufragen, dass er alle grundlegenden Thatsachen in Bezug auf den Magnetismus ein für allemal feststellte und dass er die Elektricität (das Wort stammt von ihm) als ein vom Magnetismus unterschiedenes Phänomen erkannte und ihre Ergründung anbahnte. An dieses Beispiel Gilbert’s können wir nun eine Unterscheidung anknüpfen, die ich schon kurz begründet habe bei der Aufstellung meiner Tafel und die ich vorhin noch einmal bei der Erwähnung von Goethe’s Unterscheidung zwischen dem, was ausser uns und dem, was in uns ist, flüchtig berührte, deren Bedeutung aber aus der Praxis klarer als aus theo- retischen Erwägungen hervorgehen wird; sie ist für die rationelle Auf- fassung der Geschichte germanischer Entdeckungen wesentlich: ich meine die Unterscheidung zwischen Entdeckung und Wissenschaft. Nichts wirkt hier aufklärender als ein vergleichender Blick auf die Hellenen. Die Befähigung der Hellenen für die eigentliche Wissenschaft war gross, bedeutend grösser, glaube ich, als die unsere (man denke nur an Demokrit, Aristoteles, Euklid, Aristarch u. s. w.); ihre Befähigung zur Entdeckung war dagegen auffallend gering. Auch hier ist das einfachste Beispiel zugleich das belehrendste. Pytheas, der griechische Entdeckungs- 3) Die Natur als Lehrmeisterin. 3) nie ein weisses Hemd besessen hat, viel weniger ein Paar Handschuhe; nur wenn es sein musste, besuchte er vorübergehend eine Stadt; gegen alle Kirchen hatte er eine unüberwindliche Abneigung. Das Geld war ihm an und für sich gleich- gültig, er schätzte es nur als Bundesgenosse in seinem grossen Lebenswerk: dem Kampf gegen die Wüste. Befragt, antwortete er: »Nicht das Haben, sondern das Erkämpfen macht mir Freude«. Ein echter Germane! Würdig seines Lands- mannes, Shakespeare: Things won are done, joy’s soul lies in the doing.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 759. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/238>, abgerufen am 23.04.2024.