Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Entstehung einer neuen Welt.
reisende -- an Kühnheit, Intuition und Verstand jedem späteren ver-
gleichbar1) -- steht vereinzelt da; er wurde von Allen verhöhnt
und nicht ein einziger jener Philosophen, die so schönes über Gott
und die Seele und die Atome und die Himmelssphären zu melden
wussten, hat auch nur geahnt, welche Bedeutung die einfache Er-
forschung der Erdoberfläche für den Menschen haben müsse. Dies
zeigt einen auffallenden Mangel an Neugier, eine Abwesenheit alles
echten Wissensdurstes, eine totale Blindheit für den Wert von That-
sachen,
rein als solcher. Und man glaube nicht, dass hier "Fort-
schritt" erst abgewartet werden musste. Entdeckung kann überall
jeden Tag beginnen; die notwendigen Werkzeuge -- sowohl mechani-
sche wie geistige -- ergeben sich von selbst aus den Bedürfnissen
der Forschung. Noch bis auf unsern Tag sind die fruchtbarsten Be-
obachter meist nicht die gelehrtesten Männer, und häufig sind sie in
der theoretischen Zusammenfassung ihres Wissens auffallend schwach.
So ist z. B. Faraday (vielleicht der erstaunlichste Entdecker unseres
Jahrhunderts), als Buchbindergehilfe fast ganz ungebildet aufgewachsen;
seine physikalischen Kenntnisse hat er aus den Konversationslexicis,
die er zu binden hatte, geschöpft, seine chemischen aus einer popu-
lären Zusammenfassung für junge Mädchen; damit ausgerüstet betrat
er die Bahn jener Entdeckungen, auf welchen fast die gesamte elek-
trische Technik unserer Tage ruht.2) Weder William Jones, noch
Colebrooke, die beiden Entdecker der Sanskritsprache am Schlusse
des vorigen Jahrhunderts, waren Philologen von Fach. Der Mann,
der das vollbrachte, was kein Gelehrter gekonnt hatte, nämlich aus-
findig zu machen, wie man die Pflanzen um das Geheimnis ihres
Lebens zu befragen habe, der Begründer der Pflanzenphysiologie,
Stephen Hales (+ 1761), war ein Landgeistlicher. Wir brauchen ja
nur den vorhin genannten Gilbert am Werke zu betrachten: alle seine
Versuche über Reibungselektricität hätte jeder gescheidte Grieche zwei-
tausend Jahre früher ausführen können; die Apparate, die er benützte,
hat er sich selber erfunden; die höhere Mathematik, ohne welche heute
ein volles Verständnis dieser Phänomene schwer denkbar ist, gab es
zu seiner Zeit noch nicht. Nein, der Grieche beobachtete nur wenig
und nie unbefangen; sofort stürzte er sich auf Theorie und Hypothese,
d. h. auf Wissenschaft und Philosophie; die leidenschaftliche Geduld,

1) Siehe S. 84.
2) Siehe Tyndall: Faraday as a discoverer (1870).

Die Entstehung einer neuen Welt.
reisende — an Kühnheit, Intuition und Verstand jedem späteren ver-
gleichbar1) — steht vereinzelt da; er wurde von Allen verhöhnt
und nicht ein einziger jener Philosophen, die so schönes über Gott
und die Seele und die Atome und die Himmelssphären zu melden
wussten, hat auch nur geahnt, welche Bedeutung die einfache Er-
forschung der Erdoberfläche für den Menschen haben müsse. Dies
zeigt einen auffallenden Mangel an Neugier, eine Abwesenheit alles
echten Wissensdurstes, eine totale Blindheit für den Wert von That-
sachen,
rein als solcher. Und man glaube nicht, dass hier »Fort-
schritt« erst abgewartet werden musste. Entdeckung kann überall
jeden Tag beginnen; die notwendigen Werkzeuge — sowohl mechani-
sche wie geistige — ergeben sich von selbst aus den Bedürfnissen
der Forschung. Noch bis auf unsern Tag sind die fruchtbarsten Be-
obachter meist nicht die gelehrtesten Männer, und häufig sind sie in
der theoretischen Zusammenfassung ihres Wissens auffallend schwach.
So ist z. B. Faraday (vielleicht der erstaunlichste Entdecker unseres
Jahrhunderts), als Buchbindergehilfe fast ganz ungebildet aufgewachsen;
seine physikalischen Kenntnisse hat er aus den Konversationslexicis,
die er zu binden hatte, geschöpft, seine chemischen aus einer popu-
lären Zusammenfassung für junge Mädchen; damit ausgerüstet betrat
er die Bahn jener Entdeckungen, auf welchen fast die gesamte elek-
trische Technik unserer Tage ruht.2) Weder William Jones, noch
Colebrooke, die beiden Entdecker der Sanskritsprache am Schlusse
des vorigen Jahrhunderts, waren Philologen von Fach. Der Mann,
der das vollbrachte, was kein Gelehrter gekonnt hatte, nämlich aus-
findig zu machen, wie man die Pflanzen um das Geheimnis ihres
Lebens zu befragen habe, der Begründer der Pflanzenphysiologie,
Stephen Hales († 1761), war ein Landgeistlicher. Wir brauchen ja
nur den vorhin genannten Gilbert am Werke zu betrachten: alle seine
Versuche über Reibungselektricität hätte jeder gescheidte Grieche zwei-
tausend Jahre früher ausführen können; die Apparate, die er benützte,
hat er sich selber erfunden; die höhere Mathematik, ohne welche heute
ein volles Verständnis dieser Phänomene schwer denkbar ist, gab es
zu seiner Zeit noch nicht. Nein, der Grieche beobachtete nur wenig
und nie unbefangen; sofort stürzte er sich auf Theorie und Hypothese,
d. h. auf Wissenschaft und Philosophie; die leidenschaftliche Geduld,

1) Siehe S. 84.
2) Siehe Tyndall: Faraday as a discoverer (1870).
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0239" n="760"/><fw place="top" type="header">Die Entstehung einer neuen Welt.</fw><lb/>
reisende &#x2014; an Kühnheit, Intuition und Verstand jedem späteren ver-<lb/>
gleichbar<note place="foot" n="1)">Siehe S. 84.</note> &#x2014; steht vereinzelt da; er wurde von Allen verhöhnt<lb/>
und nicht ein einziger jener Philosophen, die so schönes über Gott<lb/>
und die Seele und die Atome und die Himmelssphären zu melden<lb/>
wussten, hat auch nur geahnt, welche Bedeutung die einfache Er-<lb/>
forschung der Erdoberfläche für den Menschen haben müsse. Dies<lb/>
zeigt einen auffallenden Mangel an Neugier, eine Abwesenheit alles<lb/>
echten Wissensdurstes, eine totale Blindheit für den Wert von <hi rendition="#g">That-<lb/>
sachen,</hi> rein als solcher. Und man glaube nicht, dass hier »Fort-<lb/>
schritt« erst abgewartet werden musste. Entdeckung kann überall<lb/>
jeden Tag beginnen; die notwendigen Werkzeuge &#x2014; sowohl mechani-<lb/>
sche wie geistige &#x2014; ergeben sich von selbst aus den Bedürfnissen<lb/>
der Forschung. Noch bis auf unsern Tag sind die fruchtbarsten Be-<lb/>
obachter meist nicht die gelehrtesten Männer, und häufig sind sie in<lb/>
der theoretischen Zusammenfassung ihres Wissens auffallend schwach.<lb/>
So ist z. B. Faraday (vielleicht der erstaunlichste Entdecker unseres<lb/>
Jahrhunderts), als Buchbindergehilfe fast ganz ungebildet aufgewachsen;<lb/>
seine physikalischen Kenntnisse hat er aus den Konversationslexicis,<lb/>
die er zu binden hatte, geschöpft, seine chemischen aus einer popu-<lb/>
lären Zusammenfassung für junge Mädchen; damit ausgerüstet betrat<lb/>
er die Bahn jener Entdeckungen, auf welchen fast die gesamte elek-<lb/>
trische Technik unserer Tage ruht.<note place="foot" n="2)">Siehe Tyndall: <hi rendition="#i">Faraday as a discoverer</hi> (1870).</note> Weder William Jones, noch<lb/>
Colebrooke, die beiden Entdecker der Sanskritsprache am Schlusse<lb/>
des vorigen Jahrhunderts, waren Philologen von Fach. Der Mann,<lb/>
der das vollbrachte, was kein Gelehrter gekonnt hatte, nämlich aus-<lb/>
findig zu machen, wie man die Pflanzen um das Geheimnis ihres<lb/>
Lebens zu befragen habe, der Begründer der Pflanzenphysiologie,<lb/>
Stephen Hales (&#x2020; 1761), war ein Landgeistlicher. Wir brauchen ja<lb/>
nur den vorhin genannten Gilbert am Werke zu betrachten: alle seine<lb/>
Versuche über Reibungselektricität hätte jeder gescheidte Grieche zwei-<lb/>
tausend Jahre früher ausführen können; die Apparate, die er benützte,<lb/>
hat er sich selber erfunden; die höhere Mathematik, ohne welche heute<lb/>
ein volles Verständnis dieser Phänomene schwer denkbar ist, gab es<lb/>
zu seiner Zeit noch nicht. Nein, der Grieche beobachtete nur wenig<lb/>
und nie unbefangen; sofort stürzte er sich auf Theorie und Hypothese,<lb/>
d. h. auf Wissenschaft und Philosophie; die leidenschaftliche Geduld,<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[760/0239] Die Entstehung einer neuen Welt. reisende — an Kühnheit, Intuition und Verstand jedem späteren ver- gleichbar 1) — steht vereinzelt da; er wurde von Allen verhöhnt und nicht ein einziger jener Philosophen, die so schönes über Gott und die Seele und die Atome und die Himmelssphären zu melden wussten, hat auch nur geahnt, welche Bedeutung die einfache Er- forschung der Erdoberfläche für den Menschen haben müsse. Dies zeigt einen auffallenden Mangel an Neugier, eine Abwesenheit alles echten Wissensdurstes, eine totale Blindheit für den Wert von That- sachen, rein als solcher. Und man glaube nicht, dass hier »Fort- schritt« erst abgewartet werden musste. Entdeckung kann überall jeden Tag beginnen; die notwendigen Werkzeuge — sowohl mechani- sche wie geistige — ergeben sich von selbst aus den Bedürfnissen der Forschung. Noch bis auf unsern Tag sind die fruchtbarsten Be- obachter meist nicht die gelehrtesten Männer, und häufig sind sie in der theoretischen Zusammenfassung ihres Wissens auffallend schwach. So ist z. B. Faraday (vielleicht der erstaunlichste Entdecker unseres Jahrhunderts), als Buchbindergehilfe fast ganz ungebildet aufgewachsen; seine physikalischen Kenntnisse hat er aus den Konversationslexicis, die er zu binden hatte, geschöpft, seine chemischen aus einer popu- lären Zusammenfassung für junge Mädchen; damit ausgerüstet betrat er die Bahn jener Entdeckungen, auf welchen fast die gesamte elek- trische Technik unserer Tage ruht. 2) Weder William Jones, noch Colebrooke, die beiden Entdecker der Sanskritsprache am Schlusse des vorigen Jahrhunderts, waren Philologen von Fach. Der Mann, der das vollbrachte, was kein Gelehrter gekonnt hatte, nämlich aus- findig zu machen, wie man die Pflanzen um das Geheimnis ihres Lebens zu befragen habe, der Begründer der Pflanzenphysiologie, Stephen Hales († 1761), war ein Landgeistlicher. Wir brauchen ja nur den vorhin genannten Gilbert am Werke zu betrachten: alle seine Versuche über Reibungselektricität hätte jeder gescheidte Grieche zwei- tausend Jahre früher ausführen können; die Apparate, die er benützte, hat er sich selber erfunden; die höhere Mathematik, ohne welche heute ein volles Verständnis dieser Phänomene schwer denkbar ist, gab es zu seiner Zeit noch nicht. Nein, der Grieche beobachtete nur wenig und nie unbefangen; sofort stürzte er sich auf Theorie und Hypothese, d. h. auf Wissenschaft und Philosophie; die leidenschaftliche Geduld, 1) Siehe S. 84. 2) Siehe Tyndall: Faraday as a discoverer (1870).

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/239
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 760. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/239>, abgerufen am 23.04.2024.