Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Entdeckung.
welche das Entdeckungswerk erfordert, war ihm nicht gegeben. Da-
gegen besitzen wir Germanen eine besondere Beanlagung für das Aus-
forschen der Natur, und diese Beanlagung ist nicht etwas, was auf der
Oberfläche liegt, sondern es steht in innigem Zusammenhang mit den
tiefsten Tiefen unserer Natur. Als Theoretiker scheinen wir nicht
ausserordentlich bedeutend zu sein: die Philologen gestehen, der Inder
Panini überträfe die grössten heutigen Grammatiker;1) die Juristen sagen,
die alten Römer seien uns in der Jurisprudenz sehr überlegen; als wir
schon rings um die Welt herumgesegelt waren, musste man uns noch
ausführlich beweisen und Jahrhunderte lang einpauken, sie sei rund,
damit wir es glaubten, während die Griechen, die nur den mittel-
ländischen Tümpel kannten, dasselbe schon längst auf dem Wege der
reinen Wissenschaft dargethan hatten; mit den hellenischen Atomen,
dem indischen Äther, der babylonischen Evolution finden wir noch
immer, trotz der ungeheuren Zunahme des Wissens, unser Auskommen.
Dagegen stehen wir als Entdecker ohne Rivalen da. Jener von mir
angerufene, künftige Historiker der germanischen Civilisation und Kultur
wird also hier fein und scharf unterscheiden, und dann sehr lange und
ausführlich bei unserem Entdeckungswerk verweilen müssen.

Zur Entdeckung gehört vor Allem kindliche Unbefangenheit --
daher jene grossoffenen Kinderaugen, die in einem Gesicht wie Faraday's
fesseln. Das ganze Geheimnis der Entdeckung liegt hierin: die Natur
reden zu lassen. Dazu gehört grosse Selbstbeherrschung; diese fehlte
den Hellenen. Das Schwergewicht ihrer Genialität lag in der Schöpfer-
kraft, das Schwergewicht der unseren in der Aufnahmefähigkeit. Denn
die Natur gehorcht nicht einem Machtwort, sie spricht nicht wie wir
Menschen wollen und was wir wollen, sondern durch endlose Geduld,
durch unbedingte Unterordnung haben wir aus tausend tastenden
Versuchen herauszufinden, wie sie befragt sein will und welche
Fragen sie zu beantworten beliebt, welche nicht. Daher ist die Be-
obachtung eine hohe Schule der Charakterbildung: sie übt die Aus-
dauer, sie bändigt den Eigenwillen, sie lehrt unbedingte Wahrhaftig-
keit. Diese Rolle hat die Naturbeobachtung in der Geschichte des
Germanentums gespielt; diese Rolle würde sie morgen in unseren
Schulen spielen, wenn endlich einmal die Nacht mittelalterlicher
Superstitionen sich lichtete und wir zur Einsicht gelangten, dass nicht
das Nachplappern veralteter Weisheit in toten, unverstandenen Sprachen,

1) Siehe S. 408.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 49

Entdeckung.
welche das Entdeckungswerk erfordert, war ihm nicht gegeben. Da-
gegen besitzen wir Germanen eine besondere Beanlagung für das Aus-
forschen der Natur, und diese Beanlagung ist nicht etwas, was auf der
Oberfläche liegt, sondern es steht in innigem Zusammenhang mit den
tiefsten Tiefen unserer Natur. Als Theoretiker scheinen wir nicht
ausserordentlich bedeutend zu sein: die Philologen gestehen, der Inder
Pânini überträfe die grössten heutigen Grammatiker;1) die Juristen sagen,
die alten Römer seien uns in der Jurisprudenz sehr überlegen; als wir
schon rings um die Welt herumgesegelt waren, musste man uns noch
ausführlich beweisen und Jahrhunderte lang einpauken, sie sei rund,
damit wir es glaubten, während die Griechen, die nur den mittel-
ländischen Tümpel kannten, dasselbe schon längst auf dem Wege der
reinen Wissenschaft dargethan hatten; mit den hellenischen Atomen,
dem indischen Äther, der babylonischen Evolution finden wir noch
immer, trotz der ungeheuren Zunahme des Wissens, unser Auskommen.
Dagegen stehen wir als Entdecker ohne Rivalen da. Jener von mir
angerufene, künftige Historiker der germanischen Civilisation und Kultur
wird also hier fein und scharf unterscheiden, und dann sehr lange und
ausführlich bei unserem Entdeckungswerk verweilen müssen.

Zur Entdeckung gehört vor Allem kindliche Unbefangenheit —
daher jene grossoffenen Kinderaugen, die in einem Gesicht wie Faraday’s
fesseln. Das ganze Geheimnis der Entdeckung liegt hierin: die Natur
reden zu lassen. Dazu gehört grosse Selbstbeherrschung; diese fehlte
den Hellenen. Das Schwergewicht ihrer Genialität lag in der Schöpfer-
kraft, das Schwergewicht der unseren in der Aufnahmefähigkeit. Denn
die Natur gehorcht nicht einem Machtwort, sie spricht nicht wie wir
Menschen wollen und was wir wollen, sondern durch endlose Geduld,
durch unbedingte Unterordnung haben wir aus tausend tastenden
Versuchen herauszufinden, wie sie befragt sein will und welche
Fragen sie zu beantworten beliebt, welche nicht. Daher ist die Be-
obachtung eine hohe Schule der Charakterbildung: sie übt die Aus-
dauer, sie bändigt den Eigenwillen, sie lehrt unbedingte Wahrhaftig-
keit. Diese Rolle hat die Naturbeobachtung in der Geschichte des
Germanentums gespielt; diese Rolle würde sie morgen in unseren
Schulen spielen, wenn endlich einmal die Nacht mittelalterlicher
Superstitionen sich lichtete und wir zur Einsicht gelangten, dass nicht
das Nachplappern veralteter Weisheit in toten, unverstandenen Sprachen,

1) Siehe S. 408.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 49
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0240" n="761"/><fw place="top" type="header">Entdeckung.</fw><lb/>
welche das Entdeckungswerk erfordert, war ihm nicht gegeben. Da-<lb/>
gegen besitzen wir Germanen eine besondere Beanlagung für das Aus-<lb/>
forschen der Natur, und diese Beanlagung ist nicht etwas, was auf der<lb/>
Oberfläche liegt, sondern es steht in innigem Zusammenhang mit den<lb/>
tiefsten Tiefen unserer Natur. Als <hi rendition="#g">Theoretiker</hi> scheinen wir nicht<lb/>
ausserordentlich bedeutend zu sein: die Philologen gestehen, der Inder<lb/>
Pânini überträfe die grössten heutigen Grammatiker;<note place="foot" n="1)">Siehe S. 408.</note> die Juristen sagen,<lb/>
die alten Römer seien uns in der Jurisprudenz sehr überlegen; als wir<lb/>
schon rings um die Welt herumgesegelt waren, musste man uns noch<lb/>
ausführlich beweisen und Jahrhunderte lang einpauken, sie sei rund,<lb/>
damit wir es glaubten, während die Griechen, die nur den mittel-<lb/>
ländischen Tümpel kannten, dasselbe schon längst auf dem Wege der<lb/>
reinen Wissenschaft dargethan hatten; mit den hellenischen Atomen,<lb/>
dem indischen Äther, der babylonischen Evolution finden wir noch<lb/>
immer, trotz der ungeheuren Zunahme des Wissens, unser Auskommen.<lb/>
Dagegen stehen wir als <hi rendition="#g">Entdecker</hi> ohne Rivalen da. Jener von mir<lb/>
angerufene, künftige Historiker der germanischen Civilisation und Kultur<lb/>
wird also hier fein und scharf unterscheiden, und dann sehr lange und<lb/>
ausführlich bei unserem Entdeckungswerk verweilen müssen.</p><lb/>
              <p>Zur Entdeckung gehört vor Allem kindliche Unbefangenheit &#x2014;<lb/>
daher jene grossoffenen Kinderaugen, die in einem Gesicht wie Faraday&#x2019;s<lb/>
fesseln. Das ganze Geheimnis der Entdeckung liegt hierin: die Natur<lb/>
reden zu lassen. Dazu gehört grosse Selbstbeherrschung; diese fehlte<lb/>
den Hellenen. Das Schwergewicht ihrer Genialität lag in der Schöpfer-<lb/>
kraft, das Schwergewicht der unseren in der Aufnahmefähigkeit. Denn<lb/>
die Natur gehorcht nicht einem Machtwort, sie spricht nicht wie wir<lb/>
Menschen wollen und was wir wollen, sondern durch endlose Geduld,<lb/>
durch unbedingte Unterordnung haben wir aus tausend tastenden<lb/>
Versuchen herauszufinden, wie sie befragt sein will und <hi rendition="#g">welche</hi><lb/>
Fragen sie zu beantworten beliebt, welche nicht. Daher ist die Be-<lb/>
obachtung eine hohe Schule der Charakterbildung: sie übt die Aus-<lb/>
dauer, sie bändigt den Eigenwillen, sie lehrt unbedingte Wahrhaftig-<lb/>
keit. Diese Rolle hat die Naturbeobachtung in der Geschichte des<lb/>
Germanentums gespielt; diese Rolle würde sie morgen in unseren<lb/>
Schulen spielen, wenn endlich einmal die Nacht mittelalterlicher<lb/>
Superstitionen sich lichtete und wir zur Einsicht gelangten, dass nicht<lb/>
das Nachplappern veralteter Weisheit in toten, unverstandenen Sprachen,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 49</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[761/0240] Entdeckung. welche das Entdeckungswerk erfordert, war ihm nicht gegeben. Da- gegen besitzen wir Germanen eine besondere Beanlagung für das Aus- forschen der Natur, und diese Beanlagung ist nicht etwas, was auf der Oberfläche liegt, sondern es steht in innigem Zusammenhang mit den tiefsten Tiefen unserer Natur. Als Theoretiker scheinen wir nicht ausserordentlich bedeutend zu sein: die Philologen gestehen, der Inder Pânini überträfe die grössten heutigen Grammatiker; 1) die Juristen sagen, die alten Römer seien uns in der Jurisprudenz sehr überlegen; als wir schon rings um die Welt herumgesegelt waren, musste man uns noch ausführlich beweisen und Jahrhunderte lang einpauken, sie sei rund, damit wir es glaubten, während die Griechen, die nur den mittel- ländischen Tümpel kannten, dasselbe schon längst auf dem Wege der reinen Wissenschaft dargethan hatten; mit den hellenischen Atomen, dem indischen Äther, der babylonischen Evolution finden wir noch immer, trotz der ungeheuren Zunahme des Wissens, unser Auskommen. Dagegen stehen wir als Entdecker ohne Rivalen da. Jener von mir angerufene, künftige Historiker der germanischen Civilisation und Kultur wird also hier fein und scharf unterscheiden, und dann sehr lange und ausführlich bei unserem Entdeckungswerk verweilen müssen. Zur Entdeckung gehört vor Allem kindliche Unbefangenheit — daher jene grossoffenen Kinderaugen, die in einem Gesicht wie Faraday’s fesseln. Das ganze Geheimnis der Entdeckung liegt hierin: die Natur reden zu lassen. Dazu gehört grosse Selbstbeherrschung; diese fehlte den Hellenen. Das Schwergewicht ihrer Genialität lag in der Schöpfer- kraft, das Schwergewicht der unseren in der Aufnahmefähigkeit. Denn die Natur gehorcht nicht einem Machtwort, sie spricht nicht wie wir Menschen wollen und was wir wollen, sondern durch endlose Geduld, durch unbedingte Unterordnung haben wir aus tausend tastenden Versuchen herauszufinden, wie sie befragt sein will und welche Fragen sie zu beantworten beliebt, welche nicht. Daher ist die Be- obachtung eine hohe Schule der Charakterbildung: sie übt die Aus- dauer, sie bändigt den Eigenwillen, sie lehrt unbedingte Wahrhaftig- keit. Diese Rolle hat die Naturbeobachtung in der Geschichte des Germanentums gespielt; diese Rolle würde sie morgen in unseren Schulen spielen, wenn endlich einmal die Nacht mittelalterlicher Superstitionen sich lichtete und wir zur Einsicht gelangten, dass nicht das Nachplappern veralteter Weisheit in toten, unverstandenen Sprachen, 1) Siehe S. 408. Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 49

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/240
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 761. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/240>, abgerufen am 24.04.2024.