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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
auch nicht das Wissen angeblicher "Thatsachen" und noch weniger
die Wissenschaft, sondern die Methode der Erwerbung alles Wissens,
nämlich die Beobachtung, die Grundlage aller Erziehung sein sollte,
als einzige Disciplin, welche zugleich den Geist und den Charakter
formt, Freiheit und doch nicht Ungebundenheit schenkt, und welche
die Quelle aller Wahrheit und aller Originalität einem Jeden zu-
gänglich macht. Denn hier sehen wir Wissen und Kultur sich wieder
berühren und lernen noch besser verstehen, inwiefern Entdecker und
Dichter einer Familie angehören: wirklich originell ist nämlich nur --
dafür aber überall und immer -- die Natur. "Die Natur allein ist
unendlich reich, und sie allein bildet den grossen Künstler".1) Die
Menschen, die wir Genies nennen, ein Leonardo, ein Shakespeare, ein
Bach, ein Kant, ein Goethe, sind unendlich fein organisierte Beobachter;
freilich nicht in dem Sinne des Grübelns und Grabbelns, wohl aber im
Sinne des Sehens, sowie des Aufspeicherns und Verarbeitens des Ge-
sehenen. Diese Sehkraft nun -- d. h. die Fähigkeit des einzelnen
Menschen, sich so zur Natur zu stellen, dass er innerhalb gewisser
durch seine Individualität gezogener Grenzen ihre ewig schöpferische
Originalität in sich aufnehme und dadurch befähigt werde, selber
schöpferisch und originell zu sein -- diese Sehkraft kann geübt und
entwickelt werden. Allerdings wird sie sich nur bei wenigen ausser-
ordentlichen Menschen freischöpferisch bethätigen, doch Tausende zu
originellen Leistungen befähigen.

Die hemmende
Umgebung.

Wenn der Trieb zum forschenden Entdecken dem Germanen in der
beschriebenen Weise angeboren ist, warum erwachte er so spät? Er er-
wachte nicht spät, sondern er wurde systematisch durch andere Mächte
unterdrückt. Sobald die Wanderungen mit ihren unaufhörlichen Kriegen
nur einen Augenblick Ruhe gönnen, erblicken wir den Germanen am
Werke, nach Wissen dürstend und fleissig forschend. Karl der Grosse und
König Alfred sind allbekannte Beispiele (S. 317 fg.); schon von Karl's Vater,
Pippin, lesen wir bei Lamprecht,2) er sei "voll Verständnis namentlich
für Naturwissenschaften
gewesen"!3) Entscheidend ist dann die
Aussage eines solchen Mannes wie Scotus Erigena (im 9. Jahrhundert),
dass die Natur erforscht werden könne und erforscht werden solle;

1) Goethe: Werther's Leiden, Brief vom 26. Mai des ersten Jahres. Vergl. auch
hier das S. 270 unten Gesagte.
2) Deutsche Geschichte, II, 13.
3) Nur im Vorbeigehen die für unsere germanische Eigenart so wichtige
Ergänzung "für Naturwissenschaften und Musik!"

Die Entstehung einer neuen Welt.
auch nicht das Wissen angeblicher »Thatsachen« und noch weniger
die Wissenschaft, sondern die Methode der Erwerbung alles Wissens,
nämlich die Beobachtung, die Grundlage aller Erziehung sein sollte,
als einzige Disciplin, welche zugleich den Geist und den Charakter
formt, Freiheit und doch nicht Ungebundenheit schenkt, und welche
die Quelle aller Wahrheit und aller Originalität einem Jeden zu-
gänglich macht. Denn hier sehen wir Wissen und Kultur sich wieder
berühren und lernen noch besser verstehen, inwiefern Entdecker und
Dichter einer Familie angehören: wirklich originell ist nämlich nur —
dafür aber überall und immer — die Natur. »Die Natur allein ist
unendlich reich, und sie allein bildet den grossen Künstler«.1) Die
Menschen, die wir Genies nennen, ein Leonardo, ein Shakespeare, ein
Bach, ein Kant, ein Goethe, sind unendlich fein organisierte Beobachter;
freilich nicht in dem Sinne des Grübelns und Grabbelns, wohl aber im
Sinne des Sehens, sowie des Aufspeicherns und Verarbeitens des Ge-
sehenen. Diese Sehkraft nun — d. h. die Fähigkeit des einzelnen
Menschen, sich so zur Natur zu stellen, dass er innerhalb gewisser
durch seine Individualität gezogener Grenzen ihre ewig schöpferische
Originalität in sich aufnehme und dadurch befähigt werde, selber
schöpferisch und originell zu sein — diese Sehkraft kann geübt und
entwickelt werden. Allerdings wird sie sich nur bei wenigen ausser-
ordentlichen Menschen freischöpferisch bethätigen, doch Tausende zu
originellen Leistungen befähigen.

Die hemmende
Umgebung.

Wenn der Trieb zum forschenden Entdecken dem Germanen in der
beschriebenen Weise angeboren ist, warum erwachte er so spät? Er er-
wachte nicht spät, sondern er wurde systematisch durch andere Mächte
unterdrückt. Sobald die Wanderungen mit ihren unaufhörlichen Kriegen
nur einen Augenblick Ruhe gönnen, erblicken wir den Germanen am
Werke, nach Wissen dürstend und fleissig forschend. Karl der Grosse und
König Alfred sind allbekannte Beispiele (S. 317 fg.); schon von Karl’s Vater,
Pippin, lesen wir bei Lamprecht,2) er sei »voll Verständnis namentlich
für Naturwissenschaften
gewesen«!3) Entscheidend ist dann die
Aussage eines solchen Mannes wie Scotus Erigena (im 9. Jahrhundert),
dass die Natur erforscht werden könne und erforscht werden solle;

1) Goethe: Werther’s Leiden, Brief vom 26. Mai des ersten Jahres. Vergl. auch
hier das S. 270 unten Gesagte.
2) Deutsche Geschichte, II, 13.
3) Nur im Vorbeigehen die für unsere germanische Eigenart so wichtige
Ergänzung »für Naturwissenschaften und Musik!«
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[762/0241] Die Entstehung einer neuen Welt. auch nicht das Wissen angeblicher »Thatsachen« und noch weniger die Wissenschaft, sondern die Methode der Erwerbung alles Wissens, nämlich die Beobachtung, die Grundlage aller Erziehung sein sollte, als einzige Disciplin, welche zugleich den Geist und den Charakter formt, Freiheit und doch nicht Ungebundenheit schenkt, und welche die Quelle aller Wahrheit und aller Originalität einem Jeden zu- gänglich macht. Denn hier sehen wir Wissen und Kultur sich wieder berühren und lernen noch besser verstehen, inwiefern Entdecker und Dichter einer Familie angehören: wirklich originell ist nämlich nur — dafür aber überall und immer — die Natur. »Die Natur allein ist unendlich reich, und sie allein bildet den grossen Künstler«. 1) Die Menschen, die wir Genies nennen, ein Leonardo, ein Shakespeare, ein Bach, ein Kant, ein Goethe, sind unendlich fein organisierte Beobachter; freilich nicht in dem Sinne des Grübelns und Grabbelns, wohl aber im Sinne des Sehens, sowie des Aufspeicherns und Verarbeitens des Ge- sehenen. Diese Sehkraft nun — d. h. die Fähigkeit des einzelnen Menschen, sich so zur Natur zu stellen, dass er innerhalb gewisser durch seine Individualität gezogener Grenzen ihre ewig schöpferische Originalität in sich aufnehme und dadurch befähigt werde, selber schöpferisch und originell zu sein — diese Sehkraft kann geübt und entwickelt werden. Allerdings wird sie sich nur bei wenigen ausser- ordentlichen Menschen freischöpferisch bethätigen, doch Tausende zu originellen Leistungen befähigen. Wenn der Trieb zum forschenden Entdecken dem Germanen in der beschriebenen Weise angeboren ist, warum erwachte er so spät? Er er- wachte nicht spät, sondern er wurde systematisch durch andere Mächte unterdrückt. Sobald die Wanderungen mit ihren unaufhörlichen Kriegen nur einen Augenblick Ruhe gönnen, erblicken wir den Germanen am Werke, nach Wissen dürstend und fleissig forschend. Karl der Grosse und König Alfred sind allbekannte Beispiele (S. 317 fg.); schon von Karl’s Vater, Pippin, lesen wir bei Lamprecht, 2) er sei »voll Verständnis namentlich für Naturwissenschaften gewesen«! 3) Entscheidend ist dann die Aussage eines solchen Mannes wie Scotus Erigena (im 9. Jahrhundert), dass die Natur erforscht werden könne und erforscht werden solle; 1) Goethe: Werther’s Leiden, Brief vom 26. Mai des ersten Jahres. Vergl. auch hier das S. 270 unten Gesagte. 2) Deutsche Geschichte, II, 13. 3) Nur im Vorbeigehen die für unsere germanische Eigenart so wichtige Ergänzung »für Naturwissenschaften und Musik!«

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 762. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/241>, abgerufen am 19.04.2024.