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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
und demjenigen, wodurch es am tiefsten geschädigt werden musste,
Vorschub zu leisten.

Doch um der Sache jede Spitze zu nehmen, die noch heute
verletzen könnte, wollen wir sie bis auf ihren reinmenschlichen Kern
verfolgen: was finden wir da? Wir finden, dass das thatsächliche, kon-
krete Wissen, also das grosse Werk der mühsamen Entdeckung, einen
Todfeind hat: das Alleswissen. Wir sahen das schon bei den Juden
(S. 382); wenn man ein heiliges Buch besitzt, welches alle Weisheit ent-
hält, so ist jede weitere Forschung ebenso überflüssig wie frevelhaft: die
christliche Kirche übernahm die jüdische Tradition. Diese für unsere
Geschichte so verhängnisvolle Anknüpfung geschieht unmittelbar vor
unseren Augen; sie kann Schritt für Schritt nachgewiesen werden.
Die alten Kirchenväter predigen einstimmig unter ausdrücklicher Be-
rufung auf die jüdische Thora die Verachtung von Kunst und von
Wissenschaft. Ambrosius z. B. sagt, Moses sei in aller weltlichen
Weisheit erzogen gewesen und habe bewiesen, dass "Wissenschaft
eine schädliche Thorheit sei, der man den Rücken kehren müsse, ehe
man Gott finden könne". "Astronomie und Geometrie treiben, dem
Lauf der Sonne unter den Sternen folgen und kartographische Auf-
nahmen von Ländern und Meeren veranstalten, heisst das Seelenheil
für müssige Dinge vernachlässigen."1) Augustinus erlaubt, dass man
die Bahn des Mondes verfolge, "denn sonst könnte man Ostern
nicht richtig bestimmen"; im Übrigen hält er die Beschäftigung mit
Astronomie für Zeitverlust, indem sie nämlich die Aufmerksamkeit
von nützlichen auf nutzlose Dinge lenke! Als "zu der Klasse der
überflüssigen menschlichen Einrichtungen gehörend" erklärt er eben-
falls die gesamte Kunst.2) Doch bedeutet diese noch unverfälscht
jüdische Stellung der alten Kirchenlehrer eine enfance de l'art; zwar
genügte sie, um Barbaren möglichst lange dumm zu erhalten; der
Germane aber war nur äusserlich Barbar; sobald er zur Besinnung kam,
entwickelten sich seine kulturellen Anlagen ganz von selbst und da war
es notwendig, andere Waffen zu schmieden. Ein im fernen Süden
geborener, zum Feind übergegangener Germane deutscher Herkunft,
Thomas von Aquin, ward der berühmteste Waffenschmied; den lech-
zenden Wissensdurst seiner Stammesbrüder suchte er im Auftrag der
Kirche zu löschen, indem er ihm die vollendete, göttliche Allwissenheit

1) De officiis ministrorum I, 26, 122--123.
2) De doctrina christiana I, 26, 2 und I, 30, 2.

Die Entstehung einer neuen Welt.
und demjenigen, wodurch es am tiefsten geschädigt werden musste,
Vorschub zu leisten.

Doch um der Sache jede Spitze zu nehmen, die noch heute
verletzen könnte, wollen wir sie bis auf ihren reinmenschlichen Kern
verfolgen: was finden wir da? Wir finden, dass das thatsächliche, kon-
krete Wissen, also das grosse Werk der mühsamen Entdeckung, einen
Todfeind hat: das Alleswissen. Wir sahen das schon bei den Juden
(S. 382); wenn man ein heiliges Buch besitzt, welches alle Weisheit ent-
hält, so ist jede weitere Forschung ebenso überflüssig wie frevelhaft: die
christliche Kirche übernahm die jüdische Tradition. Diese für unsere
Geschichte so verhängnisvolle Anknüpfung geschieht unmittelbar vor
unseren Augen; sie kann Schritt für Schritt nachgewiesen werden.
Die alten Kirchenväter predigen einstimmig unter ausdrücklicher Be-
rufung auf die jüdische Thora die Verachtung von Kunst und von
Wissenschaft. Ambrosius z. B. sagt, Moses sei in aller weltlichen
Weisheit erzogen gewesen und habe bewiesen, dass »Wissenschaft
eine schädliche Thorheit sei, der man den Rücken kehren müsse, ehe
man Gott finden könne«. »Astronomie und Geometrie treiben, dem
Lauf der Sonne unter den Sternen folgen und kartographische Auf-
nahmen von Ländern und Meeren veranstalten, heisst das Seelenheil
für müssige Dinge vernachlässigen.«1) Augustinus erlaubt, dass man
die Bahn des Mondes verfolge, »denn sonst könnte man Ostern
nicht richtig bestimmen«; im Übrigen hält er die Beschäftigung mit
Astronomie für Zeitverlust, indem sie nämlich die Aufmerksamkeit
von nützlichen auf nutzlose Dinge lenke! Als »zu der Klasse der
überflüssigen menschlichen Einrichtungen gehörend« erklärt er eben-
falls die gesamte Kunst.2) Doch bedeutet diese noch unverfälscht
jüdische Stellung der alten Kirchenlehrer eine enfance de l’art; zwar
genügte sie, um Barbaren möglichst lange dumm zu erhalten; der
Germane aber war nur äusserlich Barbar; sobald er zur Besinnung kam,
entwickelten sich seine kulturellen Anlagen ganz von selbst und da war
es notwendig, andere Waffen zu schmieden. Ein im fernen Süden
geborener, zum Feind übergegangener Germane deutscher Herkunft,
Thomas von Aquin, ward der berühmteste Waffenschmied; den lech-
zenden Wissensdurst seiner Stammesbrüder suchte er im Auftrag der
Kirche zu löschen, indem er ihm die vollendete, göttliche Allwissenheit

1) De officiis ministrorum I, 26, 122—123.
2) De doctrina christiana I, 26, 2 und I, 30, 2.
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[764/0243] Die Entstehung einer neuen Welt. und demjenigen, wodurch es am tiefsten geschädigt werden musste, Vorschub zu leisten. Doch um der Sache jede Spitze zu nehmen, die noch heute verletzen könnte, wollen wir sie bis auf ihren reinmenschlichen Kern verfolgen: was finden wir da? Wir finden, dass das thatsächliche, kon- krete Wissen, also das grosse Werk der mühsamen Entdeckung, einen Todfeind hat: das Alleswissen. Wir sahen das schon bei den Juden (S. 382); wenn man ein heiliges Buch besitzt, welches alle Weisheit ent- hält, so ist jede weitere Forschung ebenso überflüssig wie frevelhaft: die christliche Kirche übernahm die jüdische Tradition. Diese für unsere Geschichte so verhängnisvolle Anknüpfung geschieht unmittelbar vor unseren Augen; sie kann Schritt für Schritt nachgewiesen werden. Die alten Kirchenväter predigen einstimmig unter ausdrücklicher Be- rufung auf die jüdische Thora die Verachtung von Kunst und von Wissenschaft. Ambrosius z. B. sagt, Moses sei in aller weltlichen Weisheit erzogen gewesen und habe bewiesen, dass »Wissenschaft eine schädliche Thorheit sei, der man den Rücken kehren müsse, ehe man Gott finden könne«. »Astronomie und Geometrie treiben, dem Lauf der Sonne unter den Sternen folgen und kartographische Auf- nahmen von Ländern und Meeren veranstalten, heisst das Seelenheil für müssige Dinge vernachlässigen.« 1) Augustinus erlaubt, dass man die Bahn des Mondes verfolge, »denn sonst könnte man Ostern nicht richtig bestimmen«; im Übrigen hält er die Beschäftigung mit Astronomie für Zeitverlust, indem sie nämlich die Aufmerksamkeit von nützlichen auf nutzlose Dinge lenke! Als »zu der Klasse der überflüssigen menschlichen Einrichtungen gehörend« erklärt er eben- falls die gesamte Kunst. 2) Doch bedeutet diese noch unverfälscht jüdische Stellung der alten Kirchenlehrer eine enfance de l’art; zwar genügte sie, um Barbaren möglichst lange dumm zu erhalten; der Germane aber war nur äusserlich Barbar; sobald er zur Besinnung kam, entwickelten sich seine kulturellen Anlagen ganz von selbst und da war es notwendig, andere Waffen zu schmieden. Ein im fernen Süden geborener, zum Feind übergegangener Germane deutscher Herkunft, Thomas von Aquin, ward der berühmteste Waffenschmied; den lech- zenden Wissensdurst seiner Stammesbrüder suchte er im Auftrag der Kirche zu löschen, indem er ihm die vollendete, göttliche Allwissenheit 1) De officiis ministrorum I, 26, 122—123. 2) De doctrina christiana I, 26, 2 und I, 30, 2.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 764. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/243>, abgerufen am 29.03.2024.