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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
scheidende.1) In der Erkenntnis dieses Verhältnisses liegt die ganze
Bedeutung des Sokrates eingeschlossen, der von den Machthabern seiner
Zeit aus demselben Grunde verfolgt wurde, wie die Scotus Erigena
und Roger Bacon von den Machthabern ihrer Zeit. Denn es fällt mir
nicht ein, der römischen Kirche einen besonderen, nur auf sie ge-
münzten Vorwurf aus ihrem Verhalten zu machen. Zwar richtet sich
die Aufmerksamkeit immer in erster Linie auf sie, schon wegen der
entscheidenden Macht, die sie bis vor wenigen Jahrhunderten besass,
sowie auch wegen der grossartigen Konsequenz, mit der sie stets den
einzig logischen Standpunkt unseres aus dem Judentum hervorgegangenen
Glaubenssystems bis heute festgehalten hat; doch auch ausserhalb ihrer
Gemeinschaft finden wir denselben Geist, als unabweisliche Folge
jeder historischen, materialistischen Religion. Martin Luther z. B. hat
folgenden horrenden Ausspruch gethan: "Der Griechischen Weisheit,
wenn sie gegen der Juden Weisheit gehalten wird, ist gar viehisch;
denn ausser Gott kann keine Weisheit, noch einiger Verstand und
Witz sein." Also die ewig herrlichen Leistungen der Hellenen sind
"viehisch" im Verhältnis zu der absoluten Ignoranz und kulturellen
Roheit eines Volkes, welches auf keinem einzigen Felde menschlichen
Wissens oder Schaffens jemals das Geringste geleistet hat! Hingegen
weist Roger Bacon in dem ersten Teil seines Opus majus als die vor-
nehmliche Ursache der menschlichen Unwissenheit "den Stolz eines
vorgeblichen Wissens" nach; womit er in der That den Kernpunkt
trifft.2) Der Rechtsanwalt Krebs (besser bekannt als Kardinal Cusanus
und berühmt als Aufdecker des römischen Dekretalienschwindels) ver-
trat zwei Jahrhunderte später dieselbe These in seinem vielgenannten

1) Daher das tiefsinnige Wort Kant's über die Bedeutung der Astronomie:
"Das Wichtigste ist wohl, dass sie uns den Abgrund der Unwissenheit aufgedeckt
hat, den die menschliche Vernunft ohne diese Kenntnisse sich niemals so gross
hätte vorstellen können, und worüber das Nachdenken eine grosse Veränderung
in der Bestimmung der Endabsichten unseres Vernunftgebrauches hervorbringen
muss" (Kritik der reinen Vernunft, Anmerkung in dem Abschnitt betitelt: "Von
dem transscendentalen Ideal").
2) Die Ignoranz hat nach ihm vier Ursachen: den Autoritätsglauben, die
Macht der Gewohnheit, die Sinnestäuschungen, den stolzen Wahnsinn einer er-
träumten Weisheit. Von den Thomisten und Franziskanern, die als die grössten
Gelehrten seiner Zeit galten, sagt Bacon: "Niemals hat die Welt einen so grossen
Schein des Wissens gesehen wie heute, und doch war niemals in Wahrheit die
Ignoranz so krass, der Irrtum so tief eingewurzelt" (nach einem Citat in Whewell:
History of the inductive sciences, 3d. ed., I, 378).

Die Entstehung einer neuen Welt.
scheidende.1) In der Erkenntnis dieses Verhältnisses liegt die ganze
Bedeutung des Sokrates eingeschlossen, der von den Machthabern seiner
Zeit aus demselben Grunde verfolgt wurde, wie die Scotus Erigena
und Roger Bacon von den Machthabern ihrer Zeit. Denn es fällt mir
nicht ein, der römischen Kirche einen besonderen, nur auf sie ge-
münzten Vorwurf aus ihrem Verhalten zu machen. Zwar richtet sich
die Aufmerksamkeit immer in erster Linie auf sie, schon wegen der
entscheidenden Macht, die sie bis vor wenigen Jahrhunderten besass,
sowie auch wegen der grossartigen Konsequenz, mit der sie stets den
einzig logischen Standpunkt unseres aus dem Judentum hervorgegangenen
Glaubenssystems bis heute festgehalten hat; doch auch ausserhalb ihrer
Gemeinschaft finden wir denselben Geist, als unabweisliche Folge
jeder historischen, materialistischen Religion. Martin Luther z. B. hat
folgenden horrenden Ausspruch gethan: »Der Griechischen Weisheit,
wenn sie gegen der Juden Weisheit gehalten wird, ist gar viehisch;
denn ausser Gott kann keine Weisheit, noch einiger Verstand und
Witz sein.« Also die ewig herrlichen Leistungen der Hellenen sind
»viehisch« im Verhältnis zu der absoluten Ignoranz und kulturellen
Roheit eines Volkes, welches auf keinem einzigen Felde menschlichen
Wissens oder Schaffens jemals das Geringste geleistet hat! Hingegen
weist Roger Bacon in dem ersten Teil seines Opus majus als die vor-
nehmliche Ursache der menschlichen Unwissenheit »den Stolz eines
vorgeblichen Wissens« nach; womit er in der That den Kernpunkt
trifft.2) Der Rechtsanwalt Krebs (besser bekannt als Kardinal Cusanus
und berühmt als Aufdecker des römischen Dekretalienschwindels) ver-
trat zwei Jahrhunderte später dieselbe These in seinem vielgenannten

1) Daher das tiefsinnige Wort Kant’s über die Bedeutung der Astronomie:
»Das Wichtigste ist wohl, dass sie uns den Abgrund der Unwissenheit aufgedeckt
hat, den die menschliche Vernunft ohne diese Kenntnisse sich niemals so gross
hätte vorstellen können, und worüber das Nachdenken eine grosse Veränderung
in der Bestimmung der Endabsichten unseres Vernunftgebrauches hervorbringen
muss« (Kritik der reinen Vernunft, Anmerkung in dem Abschnitt betitelt: »Von
dem transscendentalen Ideal«).
2) Die Ignoranz hat nach ihm vier Ursachen: den Autoritätsglauben, die
Macht der Gewohnheit, die Sinnestäuschungen, den stolzen Wahnsinn einer er-
träumten Weisheit. Von den Thomisten und Franziskanern, die als die grössten
Gelehrten seiner Zeit galten, sagt Bacon: »Niemals hat die Welt einen so grossen
Schein des Wissens gesehen wie heute, und doch war niemals in Wahrheit die
Ignoranz so krass, der Irrtum so tief eingewurzelt« (nach einem Citat in Whewell:
History of the inductive sciences, 3d. ed., I, 378).
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[766/0245] Die Entstehung einer neuen Welt. scheidende. 1) In der Erkenntnis dieses Verhältnisses liegt die ganze Bedeutung des Sokrates eingeschlossen, der von den Machthabern seiner Zeit aus demselben Grunde verfolgt wurde, wie die Scotus Erigena und Roger Bacon von den Machthabern ihrer Zeit. Denn es fällt mir nicht ein, der römischen Kirche einen besonderen, nur auf sie ge- münzten Vorwurf aus ihrem Verhalten zu machen. Zwar richtet sich die Aufmerksamkeit immer in erster Linie auf sie, schon wegen der entscheidenden Macht, die sie bis vor wenigen Jahrhunderten besass, sowie auch wegen der grossartigen Konsequenz, mit der sie stets den einzig logischen Standpunkt unseres aus dem Judentum hervorgegangenen Glaubenssystems bis heute festgehalten hat; doch auch ausserhalb ihrer Gemeinschaft finden wir denselben Geist, als unabweisliche Folge jeder historischen, materialistischen Religion. Martin Luther z. B. hat folgenden horrenden Ausspruch gethan: »Der Griechischen Weisheit, wenn sie gegen der Juden Weisheit gehalten wird, ist gar viehisch; denn ausser Gott kann keine Weisheit, noch einiger Verstand und Witz sein.« Also die ewig herrlichen Leistungen der Hellenen sind »viehisch« im Verhältnis zu der absoluten Ignoranz und kulturellen Roheit eines Volkes, welches auf keinem einzigen Felde menschlichen Wissens oder Schaffens jemals das Geringste geleistet hat! Hingegen weist Roger Bacon in dem ersten Teil seines Opus majus als die vor- nehmliche Ursache der menschlichen Unwissenheit »den Stolz eines vorgeblichen Wissens« nach; womit er in der That den Kernpunkt trifft. 2) Der Rechtsanwalt Krebs (besser bekannt als Kardinal Cusanus und berühmt als Aufdecker des römischen Dekretalienschwindels) ver- trat zwei Jahrhunderte später dieselbe These in seinem vielgenannten 1) Daher das tiefsinnige Wort Kant’s über die Bedeutung der Astronomie: »Das Wichtigste ist wohl, dass sie uns den Abgrund der Unwissenheit aufgedeckt hat, den die menschliche Vernunft ohne diese Kenntnisse sich niemals so gross hätte vorstellen können, und worüber das Nachdenken eine grosse Veränderung in der Bestimmung der Endabsichten unseres Vernunftgebrauches hervorbringen muss« (Kritik der reinen Vernunft, Anmerkung in dem Abschnitt betitelt: »Von dem transscendentalen Ideal«). 2) Die Ignoranz hat nach ihm vier Ursachen: den Autoritätsglauben, die Macht der Gewohnheit, die Sinnestäuschungen, den stolzen Wahnsinn einer er- träumten Weisheit. Von den Thomisten und Franziskanern, die als die grössten Gelehrten seiner Zeit galten, sagt Bacon: »Niemals hat die Welt einen so grossen Schein des Wissens gesehen wie heute, und doch war niemals in Wahrheit die Ignoranz so krass, der Irrtum so tief eingewurzelt« (nach einem Citat in Whewell: History of the inductive sciences, 3d. ed., I, 378).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 766. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/245>, abgerufen am 28.03.2024.