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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Wissenschaft.
uns auf allen Seiten das allmähliche Ineinanderübergehen.1) Um aber
Wissenschaft aufzubauen, müssen wir unterscheiden, und die richtige
Unterscheidung ist diejenige, welche sich in der Praxis bewährt. Ohne
Frage kennt die Natur diese Scheidung nicht: das thut nichts; die
Natur kennt auch keine Wissenschaft; das Unterscheiden in dem von
der Natur gegebenen Material, gefolgt vom Aufsneueverbinden nach
menschlich verständlichen Grundsätzen, macht überhaupt Wissen-
schaft aus.

Dich im Unendlichen zu finden,
Musst unterscheiden und dann verbinden.

Darum rief ich auch Bichat an am Anfange dieses Abschnittes.
Wäre die von ihm gelehrte Einteilung der Gewebe eine von der Natur
als Einteilung gegebene, so hätte man sie von jeher gekannt; weit
entfernt aber, hat man die von Bichat vorgeschlagenen Unterscheidungen
noch bedeutend modifiziert, denn es finden sich in der That überall Über-
gänge zwischen den Gewebearten, hier in die Augen springende, dort
der genaueren Beobachtung sich erschliessende; und so haben denkende
Forscher ausprobieren müssen, bis sie den Punkt genau feststellten, wo
die Bedürfnisse des Menschengeistes und die Achtung vor den That-
sachen der Natur sich harmonisch das Gleichgewicht halten. Dieser Punkt
lässt sich -- zwar nicht sofort, doch durch die Praxis -- bestimmen;
denn die Wissenschaft wird in ihren Methoden durch eine zwiefache
Rücksicht geleitet: sie hat Gewusstes aufzuspeichern, sie hat dafür
zu sorgen, dass das Aufgespeicherte in Gestalt neuen Wissens Zinsen
trage. An diesem Masstabe misst sich das Werk eines Bichat; denn
hier wie anderwärts erfindet das Genie nicht, mit anderen Worten
es schafft nicht aus nichts, sondern es gestaltet das Vorhandene. Wie
Homer die Volksdichtungen gestaltete, so gestaltete Bichat die Ana-
tomie; und ebenso wird auf jedem Gebiete gestaltet werden müssen.2)

Mit dieser rein methodologischen Bemerkung, die nur zur Recht-
fertigung meines eigenen Vorgehens dienen sollte, sind wir, wie man

1) Natürlich sehe ich in diesem Augenblicke von dem rein Mathematischen
ab; denn da war es allerdings eine kolossale, bahnbrechende Leistung, den Begriff
des Kontinuirlichen so umzugestalten und "von der geometrischen Anschauung los-
zulösen, dass damit gerechnet werden konnte" (Gerhardt: Geschichte der Mathematik
in Deutschland,
1877, S. 144).
2) S. 77 fg. Das Suffix "schaft" bedeutet ordnen, gestalten (englisch shape);
Wissenschaft heisst also das Gestalten des Gewussten.
50*

Wissenschaft.
uns auf allen Seiten das allmähliche Ineinanderübergehen.1) Um aber
Wissenschaft aufzubauen, müssen wir unterscheiden, und die richtige
Unterscheidung ist diejenige, welche sich in der Praxis bewährt. Ohne
Frage kennt die Natur diese Scheidung nicht: das thut nichts; die
Natur kennt auch keine Wissenschaft; das Unterscheiden in dem von
der Natur gegebenen Material, gefolgt vom Aufsneueverbinden nach
menschlich verständlichen Grundsätzen, macht überhaupt Wissen-
schaft aus.

Dich im Unendlichen zu finden,
Musst unterscheiden und dann verbinden.

Darum rief ich auch Bichat an am Anfange dieses Abschnittes.
Wäre die von ihm gelehrte Einteilung der Gewebe eine von der Natur
als Einteilung gegebene, so hätte man sie von jeher gekannt; weit
entfernt aber, hat man die von Bichat vorgeschlagenen Unterscheidungen
noch bedeutend modifiziert, denn es finden sich in der That überall Über-
gänge zwischen den Gewebearten, hier in die Augen springende, dort
der genaueren Beobachtung sich erschliessende; und so haben denkende
Forscher ausprobieren müssen, bis sie den Punkt genau feststellten, wo
die Bedürfnisse des Menschengeistes und die Achtung vor den That-
sachen der Natur sich harmonisch das Gleichgewicht halten. Dieser Punkt
lässt sich — zwar nicht sofort, doch durch die Praxis — bestimmen;
denn die Wissenschaft wird in ihren Methoden durch eine zwiefache
Rücksicht geleitet: sie hat Gewusstes aufzuspeichern, sie hat dafür
zu sorgen, dass das Aufgespeicherte in Gestalt neuen Wissens Zinsen
trage. An diesem Masstabe misst sich das Werk eines Bichat; denn
hier wie anderwärts erfindet das Genie nicht, mit anderen Worten
es schafft nicht aus nichts, sondern es gestaltet das Vorhandene. Wie
Homer die Volksdichtungen gestaltete, so gestaltete Bichat die Ana-
tomie; und ebenso wird auf jedem Gebiete gestaltet werden müssen.2)

Mit dieser rein methodologischen Bemerkung, die nur zur Recht-
fertigung meines eigenen Vorgehens dienen sollte, sind wir, wie man

1) Natürlich sehe ich in diesem Augenblicke von dem rein Mathematischen
ab; denn da war es allerdings eine kolossale, bahnbrechende Leistung, den Begriff
des Kontinuirlichen so umzugestalten und »von der geometrischen Anschauung los-
zulösen, dass damit gerechnet werden konnte« (Gerhardt: Geschichte der Mathematik
in Deutschland,
1877, S. 144).
2) S. 77 fg. Das Suffix »schaft« bedeutet ordnen, gestalten (englisch shape);
Wissenschaft heisst also das Gestalten des Gewussten.
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[779/0258] Wissenschaft. uns auf allen Seiten das allmähliche Ineinanderübergehen. 1) Um aber Wissenschaft aufzubauen, müssen wir unterscheiden, und die richtige Unterscheidung ist diejenige, welche sich in der Praxis bewährt. Ohne Frage kennt die Natur diese Scheidung nicht: das thut nichts; die Natur kennt auch keine Wissenschaft; das Unterscheiden in dem von der Natur gegebenen Material, gefolgt vom Aufsneueverbinden nach menschlich verständlichen Grundsätzen, macht überhaupt Wissen- schaft aus. Dich im Unendlichen zu finden, Musst unterscheiden und dann verbinden. Darum rief ich auch Bichat an am Anfange dieses Abschnittes. Wäre die von ihm gelehrte Einteilung der Gewebe eine von der Natur als Einteilung gegebene, so hätte man sie von jeher gekannt; weit entfernt aber, hat man die von Bichat vorgeschlagenen Unterscheidungen noch bedeutend modifiziert, denn es finden sich in der That überall Über- gänge zwischen den Gewebearten, hier in die Augen springende, dort der genaueren Beobachtung sich erschliessende; und so haben denkende Forscher ausprobieren müssen, bis sie den Punkt genau feststellten, wo die Bedürfnisse des Menschengeistes und die Achtung vor den That- sachen der Natur sich harmonisch das Gleichgewicht halten. Dieser Punkt lässt sich — zwar nicht sofort, doch durch die Praxis — bestimmen; denn die Wissenschaft wird in ihren Methoden durch eine zwiefache Rücksicht geleitet: sie hat Gewusstes aufzuspeichern, sie hat dafür zu sorgen, dass das Aufgespeicherte in Gestalt neuen Wissens Zinsen trage. An diesem Masstabe misst sich das Werk eines Bichat; denn hier wie anderwärts erfindet das Genie nicht, mit anderen Worten es schafft nicht aus nichts, sondern es gestaltet das Vorhandene. Wie Homer die Volksdichtungen gestaltete, so gestaltete Bichat die Ana- tomie; und ebenso wird auf jedem Gebiete gestaltet werden müssen. 2) Mit dieser rein methodologischen Bemerkung, die nur zur Recht- fertigung meines eigenen Vorgehens dienen sollte, sind wir, wie man 1) Natürlich sehe ich in diesem Augenblicke von dem rein Mathematischen ab; denn da war es allerdings eine kolossale, bahnbrechende Leistung, den Begriff des Kontinuirlichen so umzugestalten und »von der geometrischen Anschauung los- zulösen, dass damit gerechnet werden konnte« (Gerhardt: Geschichte der Mathematik in Deutschland, 1877, S. 144). 2) S. 77 fg. Das Suffix »schaft« bedeutet ordnen, gestalten (englisch shape); Wissenschaft heisst also das Gestalten des Gewussten. 50*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 779. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/258>, abgerufen am 28.03.2024.