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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Wissenschaft.
mathematische Analyse", sagt Carnot, "ist voller enigmatischer An-
nahmen, und aus diesen Enigmen schöpft sie ihre Kraft."1) Von
unserer Physik sagt ein Berufener, John Tyndall: "das mächtigste
ihrer Werkzeuge ist die Phantasie."2) In den Wissenschaften des Lebens
schreiten heute eben so wie gestern, überall wo wir bestrebt sind,
neue Gebiete dem Verständnis aufzuschliessen und ungeordnete
Thatsachen zu Wissen zu gestalten, phantasiebegabte, schöpferische
Männer voran: Haeckel's Plastidüle, Wiesner's Plasomen, Weissmann's
Biophoren u. s. w. entspringen demselben Bedürfnis wie Stahl's
meisterliche Erfindung. Zwar ist die Phantasie dieser Männer durch
die Fülle exakter Beobachtungen genährt und angeregt; pure Phantasie,
für welche die Theorie der "Signaturen" als Beispiel dienen kann,
hat für die Wissenschaft dieselbe Bedeutung wie für die Kunst das
Gemälde eines Mannes, der die Technik des Malens nicht kennt;
doch sind ihre hypothetischen Annahmen nicht Beobachtungen, also
nicht Thatsachen, sondern Versuche, Thatsachen zu ordnen und neue
Beobachtungen hervorzurufen. Das eklatanteste Phlogiston unseres
Jahrhunderts war ja nichts geringeres als Darwin's Theorie der natür-
lichen Zuchtwahl.

Vielleicht darf ich, um diese Ausführung zusammenfassend zu
beschliessen, mich selbst citieren. Ich hatte einmal Gelegenheit, einen
bestimmten naturwissenschaftlichen Gegenstand eingehend zu studieren,
nämlich den aufsteigenden Saft der Pflanzen. Mit Interesse unter-
suchte ich bei dieser Gelegenheit die geschichtliche Entwickelung
unserer diesbezüglichen Kenntnisse und fand, dass nur drei Männer --
Hales (1727), Dutrochet (1826) und Hofmeister (1857) -- unsere
Kenntnisse in Bezug auf diese Frage wirklich um je einen Schritt
weiter gebracht haben, und zwar trotzdem es an fleissigen Arbeitern
nicht gefehlt hat. Bei den drei seltenen Männern, sonst sehr ver-
schieden von einander, ist die Übereinstimmung folgender Charakte-
ristika sehr auffallend: alle sind vortreffliche Beobachter, alle sind
Männer von sehr weitem Gesichtskreis und von hervorragend leb-
hafter, kühner Phantasie, alle sind als Theoretiker etwas einseitig und
flüchtig. Mit Imagination hochbegabt, waren sie eben, wie Goethe,
geneigt, ihren schöpferischen Ideen eine zu weit gehende Bedeutung
zuzuschreiben; so Hales der Kapillarität, Dutrochet der Osmose, Hof-

1) A. a. O., S. 27.
2) On the scientific use of the imagination, 1870.

Wissenschaft.
mathematische Analyse«, sagt Carnot, »ist voller enigmatischer An-
nahmen, und aus diesen Enigmen schöpft sie ihre Kraft.«1) Von
unserer Physik sagt ein Berufener, John Tyndall: »das mächtigste
ihrer Werkzeuge ist die Phantasie.«2) In den Wissenschaften des Lebens
schreiten heute eben so wie gestern, überall wo wir bestrebt sind,
neue Gebiete dem Verständnis aufzuschliessen und ungeordnete
Thatsachen zu Wissen zu gestalten, phantasiebegabte, schöpferische
Männer voran: Haeckel’s Plastidüle, Wiesner’s Plasomen, Weissmann’s
Biophoren u. s. w. entspringen demselben Bedürfnis wie Stahl’s
meisterliche Erfindung. Zwar ist die Phantasie dieser Männer durch
die Fülle exakter Beobachtungen genährt und angeregt; pure Phantasie,
für welche die Theorie der »Signaturen« als Beispiel dienen kann,
hat für die Wissenschaft dieselbe Bedeutung wie für die Kunst das
Gemälde eines Mannes, der die Technik des Malens nicht kennt;
doch sind ihre hypothetischen Annahmen nicht Beobachtungen, also
nicht Thatsachen, sondern Versuche, Thatsachen zu ordnen und neue
Beobachtungen hervorzurufen. Das eklatanteste Phlogiston unseres
Jahrhunderts war ja nichts geringeres als Darwin’s Theorie der natür-
lichen Zuchtwahl.

Vielleicht darf ich, um diese Ausführung zusammenfassend zu
beschliessen, mich selbst citieren. Ich hatte einmal Gelegenheit, einen
bestimmten naturwissenschaftlichen Gegenstand eingehend zu studieren,
nämlich den aufsteigenden Saft der Pflanzen. Mit Interesse unter-
suchte ich bei dieser Gelegenheit die geschichtliche Entwickelung
unserer diesbezüglichen Kenntnisse und fand, dass nur drei Männer —
Hales (1727), Dutrochet (1826) und Hofmeister (1857) — unsere
Kenntnisse in Bezug auf diese Frage wirklich um je einen Schritt
weiter gebracht haben, und zwar trotzdem es an fleissigen Arbeitern
nicht gefehlt hat. Bei den drei seltenen Männern, sonst sehr ver-
schieden von einander, ist die Übereinstimmung folgender Charakte-
ristika sehr auffallend: alle sind vortreffliche Beobachter, alle sind
Männer von sehr weitem Gesichtskreis und von hervorragend leb-
hafter, kühner Phantasie, alle sind als Theoretiker etwas einseitig und
flüchtig. Mit Imagination hochbegabt, waren sie eben, wie Goethe,
geneigt, ihren schöpferischen Ideen eine zu weit gehende Bedeutung
zuzuschreiben; so Hales der Kapillarität, Dutrochet der Osmose, Hof-

1) A. a. O., S. 27.
2) On the scientific use of the imagination, 1870.
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[805/0284] Wissenschaft. mathematische Analyse«, sagt Carnot, »ist voller enigmatischer An- nahmen, und aus diesen Enigmen schöpft sie ihre Kraft.« 1) Von unserer Physik sagt ein Berufener, John Tyndall: »das mächtigste ihrer Werkzeuge ist die Phantasie.« 2) In den Wissenschaften des Lebens schreiten heute eben so wie gestern, überall wo wir bestrebt sind, neue Gebiete dem Verständnis aufzuschliessen und ungeordnete Thatsachen zu Wissen zu gestalten, phantasiebegabte, schöpferische Männer voran: Haeckel’s Plastidüle, Wiesner’s Plasomen, Weissmann’s Biophoren u. s. w. entspringen demselben Bedürfnis wie Stahl’s meisterliche Erfindung. Zwar ist die Phantasie dieser Männer durch die Fülle exakter Beobachtungen genährt und angeregt; pure Phantasie, für welche die Theorie der »Signaturen« als Beispiel dienen kann, hat für die Wissenschaft dieselbe Bedeutung wie für die Kunst das Gemälde eines Mannes, der die Technik des Malens nicht kennt; doch sind ihre hypothetischen Annahmen nicht Beobachtungen, also nicht Thatsachen, sondern Versuche, Thatsachen zu ordnen und neue Beobachtungen hervorzurufen. Das eklatanteste Phlogiston unseres Jahrhunderts war ja nichts geringeres als Darwin’s Theorie der natür- lichen Zuchtwahl. Vielleicht darf ich, um diese Ausführung zusammenfassend zu beschliessen, mich selbst citieren. Ich hatte einmal Gelegenheit, einen bestimmten naturwissenschaftlichen Gegenstand eingehend zu studieren, nämlich den aufsteigenden Saft der Pflanzen. Mit Interesse unter- suchte ich bei dieser Gelegenheit die geschichtliche Entwickelung unserer diesbezüglichen Kenntnisse und fand, dass nur drei Männer — Hales (1727), Dutrochet (1826) und Hofmeister (1857) — unsere Kenntnisse in Bezug auf diese Frage wirklich um je einen Schritt weiter gebracht haben, und zwar trotzdem es an fleissigen Arbeitern nicht gefehlt hat. Bei den drei seltenen Männern, sonst sehr ver- schieden von einander, ist die Übereinstimmung folgender Charakte- ristika sehr auffallend: alle sind vortreffliche Beobachter, alle sind Männer von sehr weitem Gesichtskreis und von hervorragend leb- hafter, kühner Phantasie, alle sind als Theoretiker etwas einseitig und flüchtig. Mit Imagination hochbegabt, waren sie eben, wie Goethe, geneigt, ihren schöpferischen Ideen eine zu weit gehende Bedeutung zuzuschreiben; so Hales der Kapillarität, Dutrochet der Osmose, Hof- 1) A. a. O., S. 27. 2) On the scientific use of the imagination, 1870.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 805. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/284>, abgerufen am 28.03.2024.