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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Industrie.
waltet dort ein Genius der Ewigkeit: der Wissensstoff wird niemals
"überwunden", nie können Entdeckungen rückgängig gemacht werden,
ein Columbus steht dem Bewusstsein unseres Jahrhunderts näher als
dem seines eigenen, und auch die Wissenschaft enthält, wie wir ge-
sehen haben, Elemente, die an Unsterblichkeit mit den vollendetsten
Gebilden der Kunst wetteifern; dort lebt also das Vergangene als
Gegenwärtiges weiter. Von der Civilisation kann man dasselbe nicht
behaupten. Natürlich schliesst sich auch hier Glied an Glied, doch
tragen die früheren Zeiten die jetzige nur mechanisch, gleichwie bei
den Korallenpolypen die abgestorbenen verkalkten Geschlechter den
neuen als Unterlage dienen. Zwar ist auch hier das Verhältnis der
Vergangenheit zur Gegenwart akademisch von höchstem Interesse, auch
kann dessen Erforschung belehrend wirken; doch bleibt in der Praxis
das öffentliche Leben stets eine ausschliesslich "gegenwärtige" Er-
scheinung: die Lehren der Vergangenheit sind dunkel, widerspruchs-
voll, unanwendbar; der Zukunft wird ebenfalls wenig gedacht. Eine
neue Maschine vertilgt die früheren, ein neues Gesetz hebt das bis-
herige auf; hier gebietet der Augenblick mit seiner Not und die Hast
des kurzlebenden Einzelnen. So z. B. in der Politik. In der Betrachtung
über "den Kampf im Staate" entdeckten wir gewisse grosse Unter-
strömungen, die heute wie vor tausend Jahren am Werke sind; darin
bethätigen sich allgemeine Rassenverhältnisse, physische Grundthat-
sachen, welche in dem Wellenkampf des Lebens das Licht vielfältig
brechen und darum vielfarbig in die Erscheinung treten, nichtsdesto-
weniger aber aufmerksamen Beobachtern in ihrer dauernden, organischen
Einheit erkennbar sind; nehmen wir aber die eigentliche Politik, so
finden wir ein Chaos von sich durchkreuzenden und durchquerenden
Ereignissen, in denen der Zufall, das Unberechnete, das Unvorher-
gesehene, das Inkonsequente massgebend sind, in denen der Rückprall
aus einer geographischen Entdeckung, die Erfindung eines Webstuhles,
das Aufdecken eines Steinkohlenlagers, die Waffenthat eines genialen
Feldherrn, die Dazwischenkunft eines mächtigen Staatsmannes, die
Geburt eines schwachen oder starken Monarchen, alles in Jahrhunderten
Errungene zerstört oder wieder alles an Andere Verlorene in einem
einzigen Tage zurückerobert. Weil die Byzantiner sich schlecht gegen
die Türken verteidigen, geht die mächtige Handelsrepublik Venedig
zu Grunde; weil der Papst die Portugiesen von den westlichen Meeren
ausgeschlossen, entdecken sie die Ostroute und in Folge dessen blüht
Lissabon plötzlich auf; Österreich geht dem Deutschtum verloren,

Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 52

Industrie.
waltet dort ein Genius der Ewigkeit: der Wissensstoff wird niemals
»überwunden«, nie können Entdeckungen rückgängig gemacht werden,
ein Columbus steht dem Bewusstsein unseres Jahrhunderts näher als
dem seines eigenen, und auch die Wissenschaft enthält, wie wir ge-
sehen haben, Elemente, die an Unsterblichkeit mit den vollendetsten
Gebilden der Kunst wetteifern; dort lebt also das Vergangene als
Gegenwärtiges weiter. Von der Civilisation kann man dasselbe nicht
behaupten. Natürlich schliesst sich auch hier Glied an Glied, doch
tragen die früheren Zeiten die jetzige nur mechanisch, gleichwie bei
den Korallenpolypen die abgestorbenen verkalkten Geschlechter den
neuen als Unterlage dienen. Zwar ist auch hier das Verhältnis der
Vergangenheit zur Gegenwart akademisch von höchstem Interesse, auch
kann dessen Erforschung belehrend wirken; doch bleibt in der Praxis
das öffentliche Leben stets eine ausschliesslich »gegenwärtige« Er-
scheinung: die Lehren der Vergangenheit sind dunkel, widerspruchs-
voll, unanwendbar; der Zukunft wird ebenfalls wenig gedacht. Eine
neue Maschine vertilgt die früheren, ein neues Gesetz hebt das bis-
herige auf; hier gebietet der Augenblick mit seiner Not und die Hast
des kurzlebenden Einzelnen. So z. B. in der Politik. In der Betrachtung
über »den Kampf im Staate« entdeckten wir gewisse grosse Unter-
strömungen, die heute wie vor tausend Jahren am Werke sind; darin
bethätigen sich allgemeine Rassenverhältnisse, physische Grundthat-
sachen, welche in dem Wellenkampf des Lebens das Licht vielfältig
brechen und darum vielfarbig in die Erscheinung treten, nichtsdesto-
weniger aber aufmerksamen Beobachtern in ihrer dauernden, organischen
Einheit erkennbar sind; nehmen wir aber die eigentliche Politik, so
finden wir ein Chaos von sich durchkreuzenden und durchquerenden
Ereignissen, in denen der Zufall, das Unberechnete, das Unvorher-
gesehene, das Inkonsequente massgebend sind, in denen der Rückprall
aus einer geographischen Entdeckung, die Erfindung eines Webstuhles,
das Aufdecken eines Steinkohlenlagers, die Waffenthat eines genialen
Feldherrn, die Dazwischenkunft eines mächtigen Staatsmannes, die
Geburt eines schwachen oder starken Monarchen, alles in Jahrhunderten
Errungene zerstört oder wieder alles an Andere Verlorene in einem
einzigen Tage zurückerobert. Weil die Byzantiner sich schlecht gegen
die Türken verteidigen, geht die mächtige Handelsrepublik Venedig
zu Grunde; weil der Papst die Portugiesen von den westlichen Meeren
ausgeschlossen, entdecken sie die Ostroute und in Folge dessen blüht
Lissabon plötzlich auf; Österreich geht dem Deutschtum verloren,

Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 52
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[809/0288] Industrie. waltet dort ein Genius der Ewigkeit: der Wissensstoff wird niemals »überwunden«, nie können Entdeckungen rückgängig gemacht werden, ein Columbus steht dem Bewusstsein unseres Jahrhunderts näher als dem seines eigenen, und auch die Wissenschaft enthält, wie wir ge- sehen haben, Elemente, die an Unsterblichkeit mit den vollendetsten Gebilden der Kunst wetteifern; dort lebt also das Vergangene als Gegenwärtiges weiter. Von der Civilisation kann man dasselbe nicht behaupten. Natürlich schliesst sich auch hier Glied an Glied, doch tragen die früheren Zeiten die jetzige nur mechanisch, gleichwie bei den Korallenpolypen die abgestorbenen verkalkten Geschlechter den neuen als Unterlage dienen. Zwar ist auch hier das Verhältnis der Vergangenheit zur Gegenwart akademisch von höchstem Interesse, auch kann dessen Erforschung belehrend wirken; doch bleibt in der Praxis das öffentliche Leben stets eine ausschliesslich »gegenwärtige« Er- scheinung: die Lehren der Vergangenheit sind dunkel, widerspruchs- voll, unanwendbar; der Zukunft wird ebenfalls wenig gedacht. Eine neue Maschine vertilgt die früheren, ein neues Gesetz hebt das bis- herige auf; hier gebietet der Augenblick mit seiner Not und die Hast des kurzlebenden Einzelnen. So z. B. in der Politik. In der Betrachtung über »den Kampf im Staate« entdeckten wir gewisse grosse Unter- strömungen, die heute wie vor tausend Jahren am Werke sind; darin bethätigen sich allgemeine Rassenverhältnisse, physische Grundthat- sachen, welche in dem Wellenkampf des Lebens das Licht vielfältig brechen und darum vielfarbig in die Erscheinung treten, nichtsdesto- weniger aber aufmerksamen Beobachtern in ihrer dauernden, organischen Einheit erkennbar sind; nehmen wir aber die eigentliche Politik, so finden wir ein Chaos von sich durchkreuzenden und durchquerenden Ereignissen, in denen der Zufall, das Unberechnete, das Unvorher- gesehene, das Inkonsequente massgebend sind, in denen der Rückprall aus einer geographischen Entdeckung, die Erfindung eines Webstuhles, das Aufdecken eines Steinkohlenlagers, die Waffenthat eines genialen Feldherrn, die Dazwischenkunft eines mächtigen Staatsmannes, die Geburt eines schwachen oder starken Monarchen, alles in Jahrhunderten Errungene zerstört oder wieder alles an Andere Verlorene in einem einzigen Tage zurückerobert. Weil die Byzantiner sich schlecht gegen die Türken verteidigen, geht die mächtige Handelsrepublik Venedig zu Grunde; weil der Papst die Portugiesen von den westlichen Meeren ausgeschlossen, entdecken sie die Ostroute und in Folge dessen blüht Lissabon plötzlich auf; Österreich geht dem Deutschtum verloren, Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 52

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 809. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/288>, abgerufen am 25.04.2024.