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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
Böhmen büsst auf immer seine Nationalbedeutung ein, weil eine geistige
und moralische Nullität, Ferdinand II, von Kindheit auf in den Händen
einiger ausländischer Jesuiten steht; Karl XII. schiesst wie ein Komet
durch die Geschichte, stirbt mit 21 Jahren, und doch hat sein unver-
hofftes Auftreten eingreifend auf die Karte Europa's und die Geschichte
des Protestantismus gewirkt; was die Gottesgeissel Napoleon Bonaparte
geträumt hatte -- die Welt umzugestalten -- vollbringt in weit gründ-
licherer Weise der einfache, ehrliche James Watt, der das Patent auf
seine Dampfmaschine im selben Jahre nimmt (1769), in welchem jener
Condottiere das Licht der Welt erblickte. -- -- -- Und inzwischen
besteht die eigentliche Politik aus einem ewigen Anpassen, aus einem
ewigen Ausklügeln von Kompromissen zwischen dem Notwendigen
und dem Zufälligen, zwischen dem was gestern war und dem was
morgen wird sein müssen. "Demütigend für die Politik ist alle Ge-
schichte; denn das Grösste führen die Umstände herbei", bezeugt der
verehrungswürdige Historiker Johannes von Müller.1) Sie hindert das
Neue so lange es geht und fördert es sobald der Strom ihren eigenen
Widerstand gebrochen hat; sie feilscht um Vorteile mit dem Nachbarn,
beraubt ihn, wenn er schwach wird, kriecht vor ihm, wenn er er-
starkt. Von ihr beraten, belehnt der mächtige Fürst die Grossen, auf
dass sie ihn zum König oder Kaiser erwählen, und fördert nachher
die Bürger, damit diese ihm gegen den Adel, der ihm auf den Thron
half, beistehen; die Bürger sind königstreu, weil sie hierdurch aus der
Tyrannei eines einzig auf Ausbeutung bedachten Adels erlöst werden,
doch wird der Monarch Tyrann, sobald keine mächtigen Geschlechter
mehr da sind, um ihn im Zaume zu halten, und das Volk erwacht
unfreier als ehedem; darum empört es sich, enthauptet seinen König
und vertreibt dessen Angehörige; allein jetzt regt sich vertausendfacht
der Ehrgeiz, zu herrschen, und mit bleierner Unduldsamkeit erhebt die
dumme "Mehrzahl" ihren Willen zum Gesetz. Überall die Herrschaft
des Augenblicks, d. h. der augenblicklichen Not, des augenblicklichen
Interesses, der augenblicklichen Möglichkeit, und in Folge dessen ein
reiches Nacheinander ganz verschiedener Zustände, die zwar genetisch
zu einander gehören und vom Historiker in ihrer Reihenfolge vor
unseren Augen aufgerollt werden können, doch so, dass die eine
Gegenwart die andere vernichtet, wie die Raupe das Ei, die Puppe
die Raupe, der Schmetterling die Puppe; der Schmetterling wiederum

1) Vierundzwanzig Bücher allgemeiner Geschichte, Buch 14, Kap. 21.

Die Entstehung einer neuen Welt.
Böhmen büsst auf immer seine Nationalbedeutung ein, weil eine geistige
und moralische Nullität, Ferdinand II, von Kindheit auf in den Händen
einiger ausländischer Jesuiten steht; Karl XII. schiesst wie ein Komet
durch die Geschichte, stirbt mit 21 Jahren, und doch hat sein unver-
hofftes Auftreten eingreifend auf die Karte Europa’s und die Geschichte
des Protestantismus gewirkt; was die Gottesgeissel Napoleon Bonaparte
geträumt hatte — die Welt umzugestalten — vollbringt in weit gründ-
licherer Weise der einfache, ehrliche James Watt, der das Patent auf
seine Dampfmaschine im selben Jahre nimmt (1769), in welchem jener
Condottiere das Licht der Welt erblickte. — — — Und inzwischen
besteht die eigentliche Politik aus einem ewigen Anpassen, aus einem
ewigen Ausklügeln von Kompromissen zwischen dem Notwendigen
und dem Zufälligen, zwischen dem was gestern war und dem was
morgen wird sein müssen. »Demütigend für die Politik ist alle Ge-
schichte; denn das Grösste führen die Umstände herbei«, bezeugt der
verehrungswürdige Historiker Johannes von Müller.1) Sie hindert das
Neue so lange es geht und fördert es sobald der Strom ihren eigenen
Widerstand gebrochen hat; sie feilscht um Vorteile mit dem Nachbarn,
beraubt ihn, wenn er schwach wird, kriecht vor ihm, wenn er er-
starkt. Von ihr beraten, belehnt der mächtige Fürst die Grossen, auf
dass sie ihn zum König oder Kaiser erwählen, und fördert nachher
die Bürger, damit diese ihm gegen den Adel, der ihm auf den Thron
half, beistehen; die Bürger sind königstreu, weil sie hierdurch aus der
Tyrannei eines einzig auf Ausbeutung bedachten Adels erlöst werden,
doch wird der Monarch Tyrann, sobald keine mächtigen Geschlechter
mehr da sind, um ihn im Zaume zu halten, und das Volk erwacht
unfreier als ehedem; darum empört es sich, enthauptet seinen König
und vertreibt dessen Angehörige; allein jetzt regt sich vertausendfacht
der Ehrgeiz, zu herrschen, und mit bleierner Unduldsamkeit erhebt die
dumme »Mehrzahl« ihren Willen zum Gesetz. Überall die Herrschaft
des Augenblicks, d. h. der augenblicklichen Not, des augenblicklichen
Interesses, der augenblicklichen Möglichkeit, und in Folge dessen ein
reiches Nacheinander ganz verschiedener Zustände, die zwar genetisch
zu einander gehören und vom Historiker in ihrer Reihenfolge vor
unseren Augen aufgerollt werden können, doch so, dass die eine
Gegenwart die andere vernichtet, wie die Raupe das Ei, die Puppe
die Raupe, der Schmetterling die Puppe; der Schmetterling wiederum

1) Vierundzwanzig Bücher allgemeiner Geschichte, Buch 14, Kap. 21.
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[810/0289] Die Entstehung einer neuen Welt. Böhmen büsst auf immer seine Nationalbedeutung ein, weil eine geistige und moralische Nullität, Ferdinand II, von Kindheit auf in den Händen einiger ausländischer Jesuiten steht; Karl XII. schiesst wie ein Komet durch die Geschichte, stirbt mit 21 Jahren, und doch hat sein unver- hofftes Auftreten eingreifend auf die Karte Europa’s und die Geschichte des Protestantismus gewirkt; was die Gottesgeissel Napoleon Bonaparte geträumt hatte — die Welt umzugestalten — vollbringt in weit gründ- licherer Weise der einfache, ehrliche James Watt, der das Patent auf seine Dampfmaschine im selben Jahre nimmt (1769), in welchem jener Condottiere das Licht der Welt erblickte. — — — Und inzwischen besteht die eigentliche Politik aus einem ewigen Anpassen, aus einem ewigen Ausklügeln von Kompromissen zwischen dem Notwendigen und dem Zufälligen, zwischen dem was gestern war und dem was morgen wird sein müssen. »Demütigend für die Politik ist alle Ge- schichte; denn das Grösste führen die Umstände herbei«, bezeugt der verehrungswürdige Historiker Johannes von Müller. 1) Sie hindert das Neue so lange es geht und fördert es sobald der Strom ihren eigenen Widerstand gebrochen hat; sie feilscht um Vorteile mit dem Nachbarn, beraubt ihn, wenn er schwach wird, kriecht vor ihm, wenn er er- starkt. Von ihr beraten, belehnt der mächtige Fürst die Grossen, auf dass sie ihn zum König oder Kaiser erwählen, und fördert nachher die Bürger, damit diese ihm gegen den Adel, der ihm auf den Thron half, beistehen; die Bürger sind königstreu, weil sie hierdurch aus der Tyrannei eines einzig auf Ausbeutung bedachten Adels erlöst werden, doch wird der Monarch Tyrann, sobald keine mächtigen Geschlechter mehr da sind, um ihn im Zaume zu halten, und das Volk erwacht unfreier als ehedem; darum empört es sich, enthauptet seinen König und vertreibt dessen Angehörige; allein jetzt regt sich vertausendfacht der Ehrgeiz, zu herrschen, und mit bleierner Unduldsamkeit erhebt die dumme »Mehrzahl« ihren Willen zum Gesetz. Überall die Herrschaft des Augenblicks, d. h. der augenblicklichen Not, des augenblicklichen Interesses, der augenblicklichen Möglichkeit, und in Folge dessen ein reiches Nacheinander ganz verschiedener Zustände, die zwar genetisch zu einander gehören und vom Historiker in ihrer Reihenfolge vor unseren Augen aufgerollt werden können, doch so, dass die eine Gegenwart die andere vernichtet, wie die Raupe das Ei, die Puppe die Raupe, der Schmetterling die Puppe; der Schmetterling wiederum 1) Vierundzwanzig Bücher allgemeiner Geschichte, Buch 14, Kap. 21.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 810. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/289>, abgerufen am 28.03.2024.