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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
Sinne des Wortes), und die auserlesenen Geister, die sich zu umfas-
senden, lichthellen Weltanschauungen erheben -- ein Bacon, ein Leo-
nardo, ein Bruno, ein Kant, ein Goethe -- sind freilich selten
kirchlich fromm, doch immer auffallend "religiöse" Naturen. Wir
sehen also, dass sich Weltanschauung und Religion einerseits befördern,
andererseits sich gegenseitig ersetzen oder ergänzen. Ich schrieb oben
(S. 750): In dem Mangel einer wahrhaftigen, unserer eigenen Art
entsprossenen und entsprechenden Religion erblicke ich die grösste
Gefahr für die Zukunft des Germanen, das ist seine Achillesferse; wer
ihn dort trifft, wird ihn fällen. Bei näherer Betrachtung werden wir
nun sehen, dass die Unzulänglichkeit unserer kirchlichen Religion sich
zunächst an der Unhaltbarkeit der durch sie implizierten Weltanschauung
fühlbar machte; unsere frühesten Philosophen sind alle Theologen und
zumeist ehrliche Theologen, die einen inneren Kampf um die Wahrheit
kämpfen, und Wahrheit heisst immer die Wahrhaftigkeit der durch
die besondere Natur des Individuums bedingten Anschauung. Aus
diesem Kampf heraus erwuchs nach und nach unsere durchaus neue
germanische Weltanschauung. Diese Entwickelung fand nicht in einer
einzigen geraden Linie statt; vielmehr wurde an den verschiedensten
Seiten zugleich daran gearbeitet, wie wenn an einem im Bau begriffenen
Hause Maurer und Tischler und Schlosser und Maler, ein jeder sein
Werk verrichtet, ohne sich mehr als gerade nötig um die Anderen
zu bekümmern. Was die durchaus verschiedenartigen Bemühungen
zu einem Ganzen eint, ist der Wille des Architekten; in diesem Falle
ist der Architekt der Rasseninstinkt; der Homo europaeus kann nur
bestimmte Wege wandeln, und sie zwingt er, als Herr, nach Mög-
lichkeit auch Denen auf, die nicht zu ihm gehören. Dass das Ge-
bäude fertig wäre, glaube ich nicht; ich verpflichte mich zu keiner
Schule, sondern freue mich an dem Wachsen und Werden des ger-
manischen Werkes und thue, was ich vermag, um es ehrerbietig mir
anzueignen. Dieses Wachsen und Werden in seinen allgemeinsten
Linien aufzuzeigen, wäre die Aufgabe dieses Abschnittes. Und zwar
tritt hier das Historische wieder in seine Rechte ein; denn während
Civilisation an Vergangenes nur anknüpft, um es zu vertilgen und
durch Neues zu ersetzen, und Wissen gleichsam ein Zeitloses ist, lebt
unsere ganze siebenhundertjährige philosophische und religiöse Ent-
wickelung noch gegenwärtig fort und es ist eigentlich unmöglich, über
das Heute zu reden, ohne das Gestern zu Grunde zu legen. Hier ist
Alles noch im Werden; unsere Weltanschauung -- sowie namentlich

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Weltanschauung und Religion.
Sinne des Wortes), und die auserlesenen Geister, die sich zu umfas-
senden, lichthellen Weltanschauungen erheben — ein Bacon, ein Leo-
nardo, ein Bruno, ein Kant, ein Goethe — sind freilich selten
kirchlich fromm, doch immer auffallend »religiöse« Naturen. Wir
sehen also, dass sich Weltanschauung und Religion einerseits befördern,
andererseits sich gegenseitig ersetzen oder ergänzen. Ich schrieb oben
(S. 750): In dem Mangel einer wahrhaftigen, unserer eigenen Art
entsprossenen und entsprechenden Religion erblicke ich die grösste
Gefahr für die Zukunft des Germanen, das ist seine Achillesferse; wer
ihn dort trifft, wird ihn fällen. Bei näherer Betrachtung werden wir
nun sehen, dass die Unzulänglichkeit unserer kirchlichen Religion sich
zunächst an der Unhaltbarkeit der durch sie implizierten Weltanschauung
fühlbar machte; unsere frühesten Philosophen sind alle Theologen und
zumeist ehrliche Theologen, die einen inneren Kampf um die Wahrheit
kämpfen, und Wahrheit heisst immer die Wahrhaftigkeit der durch
die besondere Natur des Individuums bedingten Anschauung. Aus
diesem Kampf heraus erwuchs nach und nach unsere durchaus neue
germanische Weltanschauung. Diese Entwickelung fand nicht in einer
einzigen geraden Linie statt; vielmehr wurde an den verschiedensten
Seiten zugleich daran gearbeitet, wie wenn an einem im Bau begriffenen
Hause Maurer und Tischler und Schlosser und Maler, ein jeder sein
Werk verrichtet, ohne sich mehr als gerade nötig um die Anderen
zu bekümmern. Was die durchaus verschiedenartigen Bemühungen
zu einem Ganzen eint, ist der Wille des Architekten; in diesem Falle
ist der Architekt der Rasseninstinkt; der Homo europaeus kann nur
bestimmte Wege wandeln, und sie zwingt er, als Herr, nach Mög-
lichkeit auch Denen auf, die nicht zu ihm gehören. Dass das Ge-
bäude fertig wäre, glaube ich nicht; ich verpflichte mich zu keiner
Schule, sondern freue mich an dem Wachsen und Werden des ger-
manischen Werkes und thue, was ich vermag, um es ehrerbietig mir
anzueignen. Dieses Wachsen und Werden in seinen allgemeinsten
Linien aufzuzeigen, wäre die Aufgabe dieses Abschnittes. Und zwar
tritt hier das Historische wieder in seine Rechte ein; denn während
Civilisation an Vergangenes nur anknüpft, um es zu vertilgen und
durch Neues zu ersetzen, und Wissen gleichsam ein Zeitloses ist, lebt
unsere ganze siebenhundertjährige philosophische und religiöse Ent-
wickelung noch gegenwärtig fort und es ist eigentlich unmöglich, über
das Heute zu reden, ohne das Gestern zu Grunde zu legen. Hier ist
Alles noch im Werden; unsere Weltanschauung — sowie namentlich

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[859/0338] Weltanschauung und Religion. Sinne des Wortes), und die auserlesenen Geister, die sich zu umfas- senden, lichthellen Weltanschauungen erheben — ein Bacon, ein Leo- nardo, ein Bruno, ein Kant, ein Goethe — sind freilich selten kirchlich fromm, doch immer auffallend »religiöse« Naturen. Wir sehen also, dass sich Weltanschauung und Religion einerseits befördern, andererseits sich gegenseitig ersetzen oder ergänzen. Ich schrieb oben (S. 750): In dem Mangel einer wahrhaftigen, unserer eigenen Art entsprossenen und entsprechenden Religion erblicke ich die grösste Gefahr für die Zukunft des Germanen, das ist seine Achillesferse; wer ihn dort trifft, wird ihn fällen. Bei näherer Betrachtung werden wir nun sehen, dass die Unzulänglichkeit unserer kirchlichen Religion sich zunächst an der Unhaltbarkeit der durch sie implizierten Weltanschauung fühlbar machte; unsere frühesten Philosophen sind alle Theologen und zumeist ehrliche Theologen, die einen inneren Kampf um die Wahrheit kämpfen, und Wahrheit heisst immer die Wahrhaftigkeit der durch die besondere Natur des Individuums bedingten Anschauung. Aus diesem Kampf heraus erwuchs nach und nach unsere durchaus neue germanische Weltanschauung. Diese Entwickelung fand nicht in einer einzigen geraden Linie statt; vielmehr wurde an den verschiedensten Seiten zugleich daran gearbeitet, wie wenn an einem im Bau begriffenen Hause Maurer und Tischler und Schlosser und Maler, ein jeder sein Werk verrichtet, ohne sich mehr als gerade nötig um die Anderen zu bekümmern. Was die durchaus verschiedenartigen Bemühungen zu einem Ganzen eint, ist der Wille des Architekten; in diesem Falle ist der Architekt der Rasseninstinkt; der Homo europaeus kann nur bestimmte Wege wandeln, und sie zwingt er, als Herr, nach Mög- lichkeit auch Denen auf, die nicht zu ihm gehören. Dass das Ge- bäude fertig wäre, glaube ich nicht; ich verpflichte mich zu keiner Schule, sondern freue mich an dem Wachsen und Werden des ger- manischen Werkes und thue, was ich vermag, um es ehrerbietig mir anzueignen. Dieses Wachsen und Werden in seinen allgemeinsten Linien aufzuzeigen, wäre die Aufgabe dieses Abschnittes. Und zwar tritt hier das Historische wieder in seine Rechte ein; denn während Civilisation an Vergangenes nur anknüpft, um es zu vertilgen und durch Neues zu ersetzen, und Wissen gleichsam ein Zeitloses ist, lebt unsere ganze siebenhundertjährige philosophische und religiöse Ent- wickelung noch gegenwärtig fort und es ist eigentlich unmöglich, über das Heute zu reden, ohne das Gestern zu Grunde zu legen. Hier ist Alles noch im Werden; unsere Weltanschauung — sowie namentlich 55*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 859. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/338>, abgerufen am 23.04.2024.