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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
gebäude gedenken, durch welche die uns eigenen, angeerbten mythischen
Vorstellungen geradezu gefälscht wurden.

Dass z. B. der menschgewordene Gott aus dem Leibe einer Jung-
frau geboren werde, war, wie gesagt, eine alte Vorstellung, doch ist
der Kultus einer "Mutter Gottes" dem Christentum durch Ägypten
vermittelt worden, wo seit etwa drei Jahrhunderten vor Christus das
reiche, plastisch-bewegliche, für alles Fremde sehr empfängliche Pan-
theon sich dieses Gedankens mit besonderem Eifer angenommen hatte,
ihn natürlich, wie alles Ägyptische, zu einem rein empirischen
Materialismus umgestaltend. Erst spät gelang es aber dem Isis-
kultus, sich den Eintritt in die christliche Religion zu erzwingen.
Im Jahre 430 wird die Benennung "Mutter Gottes" von Nestorius
als eine gotteslästerliche Neuerung erwähnt; sie war soeben erst
in die Kirche eingedrungen! In der mythologischen Dogmengeschichte
ist nun nichts so klar nachweisbar wie der unmittelbare, genetische
Zusammenhang zwischen der christlichen Anbetung der "Mutter
Gottes" und der Anbetung der Isis. In den spätesten Zeiten hatte
sich nämlich die Religion des in Ägypten hausenden Völkerchaos
immer mehr auf die Anbetung des "Gottessohnes" Horus und seiner
Mutter, Isis, beschränkt. Hierüber schreibt der berühmte Ägyptolog
Flinders Petrie: "Dieser religiöse Brauch übte auf das werdende
Christentum einen mächtigen Einfluss aus. Die Behauptung ist nicht
zu gewagt, dass wir ohne die Ägypter in unserer Religion keine
Madonna gekannt hätten. Der Kultus der Isis hatte nämlich schon
unter den ersten Kaisern eine weite Verbreitung gefunden und war
im ganzen römischen Reich so zu sagen Mode geworden; als er
dann mit jener anderen grossen religiösen Bewegung verschmolz, so
dass hinfürder Mode und tiefe Überzeugung Hand in Hand gehen
konnten, war ihm der Sieg gesichert, und seitdem blieb bis auf den
heutigen Tag die Göttin Mutter die herrschende Gestalt in der Reli-
gion Italiens."1) Derselbe Verfasser zeigt dann auch, wie die Ver-
ehrung des Horus als eines göttlichen Kindes auf die Vorstellungen

1) Religion and conscience in ancient Egypt, ed. 1898, p. 46. Alljährlich entdeckt
man in den verschiedensten Teilen von Europa neue Beweise von der allgemeinen
Verbreitung des Isiskult an allen Orten, bis wohin der Einfluss des römischen
Völkerchaos gedrungen war. Der Glaube an die Auferstehung des Leibes und die
Mitteilung des unsterblich machenden Stoffes in einem Sakrament waren schon lange
vor Christi Geburt Bestandteile dieser Mysterien. Die zahlreichsten Belege findet man
im Musee Guimet vereint, da Gallien (nebst Italien) der Hauptsitz des Isiskult war

Religion.
gebäude gedenken, durch welche die uns eigenen, angeerbten mythischen
Vorstellungen geradezu gefälscht wurden.

Dass z. B. der menschgewordene Gott aus dem Leibe einer Jung-
frau geboren werde, war, wie gesagt, eine alte Vorstellung, doch ist
der Kultus einer »Mutter Gottes« dem Christentum durch Ägypten
vermittelt worden, wo seit etwa drei Jahrhunderten vor Christus das
reiche, plastisch-bewegliche, für alles Fremde sehr empfängliche Pan-
theon sich dieses Gedankens mit besonderem Eifer angenommen hatte,
ihn natürlich, wie alles Ägyptische, zu einem rein empirischen
Materialismus umgestaltend. Erst spät gelang es aber dem Isis-
kultus, sich den Eintritt in die christliche Religion zu erzwingen.
Im Jahre 430 wird die Benennung »Mutter Gottes« von Nestorius
als eine gotteslästerliche Neuerung erwähnt; sie war soeben erst
in die Kirche eingedrungen! In der mythologischen Dogmengeschichte
ist nun nichts so klar nachweisbar wie der unmittelbare, genetische
Zusammenhang zwischen der christlichen Anbetung der »Mutter
Gottes« und der Anbetung der Isis. In den spätesten Zeiten hatte
sich nämlich die Religion des in Ägypten hausenden Völkerchaos
immer mehr auf die Anbetung des »Gottessohnes« Horus und seiner
Mutter, Isis, beschränkt. Hierüber schreibt der berühmte Ägyptolog
Flinders Petrie: »Dieser religiöse Brauch übte auf das werdende
Christentum einen mächtigen Einfluss aus. Die Behauptung ist nicht
zu gewagt, dass wir ohne die Ägypter in unserer Religion keine
Madonna gekannt hätten. Der Kultus der Isis hatte nämlich schon
unter den ersten Kaisern eine weite Verbreitung gefunden und war
im ganzen römischen Reich so zu sagen Mode geworden; als er
dann mit jener anderen grossen religiösen Bewegung verschmolz, so
dass hinfürder Mode und tiefe Überzeugung Hand in Hand gehen
konnten, war ihm der Sieg gesichert, und seitdem blieb bis auf den
heutigen Tag die Göttin Mutter die herrschende Gestalt in der Reli-
gion Italiens.«1) Derselbe Verfasser zeigt dann auch, wie die Ver-
ehrung des Horus als eines göttlichen Kindes auf die Vorstellungen

1) Religion and conscience in ancient Egypt, ed. 1898, p. 46. Alljährlich entdeckt
man in den verschiedensten Teilen von Europa neue Beweise von der allgemeinen
Verbreitung des Isiskult an allen Orten, bis wohin der Einfluss des römischen
Völkerchaos gedrungen war. Der Glaube an die Auferstehung des Leibes und die
Mitteilung des unsterblich machenden Stoffes in einem Sakrament waren schon lange
vor Christi Geburt Bestandteile dieser Mysterien. Die zahlreichsten Belege findet man
im Musée Guimet vereint, da Gallien (nebst Italien) der Hauptsitz des Isiskult war
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[557/0036] Religion. gebäude gedenken, durch welche die uns eigenen, angeerbten mythischen Vorstellungen geradezu gefälscht wurden. Dass z. B. der menschgewordene Gott aus dem Leibe einer Jung- frau geboren werde, war, wie gesagt, eine alte Vorstellung, doch ist der Kultus einer »Mutter Gottes« dem Christentum durch Ägypten vermittelt worden, wo seit etwa drei Jahrhunderten vor Christus das reiche, plastisch-bewegliche, für alles Fremde sehr empfängliche Pan- theon sich dieses Gedankens mit besonderem Eifer angenommen hatte, ihn natürlich, wie alles Ägyptische, zu einem rein empirischen Materialismus umgestaltend. Erst spät gelang es aber dem Isis- kultus, sich den Eintritt in die christliche Religion zu erzwingen. Im Jahre 430 wird die Benennung »Mutter Gottes« von Nestorius als eine gotteslästerliche Neuerung erwähnt; sie war soeben erst in die Kirche eingedrungen! In der mythologischen Dogmengeschichte ist nun nichts so klar nachweisbar wie der unmittelbare, genetische Zusammenhang zwischen der christlichen Anbetung der »Mutter Gottes« und der Anbetung der Isis. In den spätesten Zeiten hatte sich nämlich die Religion des in Ägypten hausenden Völkerchaos immer mehr auf die Anbetung des »Gottessohnes« Horus und seiner Mutter, Isis, beschränkt. Hierüber schreibt der berühmte Ägyptolog Flinders Petrie: »Dieser religiöse Brauch übte auf das werdende Christentum einen mächtigen Einfluss aus. Die Behauptung ist nicht zu gewagt, dass wir ohne die Ägypter in unserer Religion keine Madonna gekannt hätten. Der Kultus der Isis hatte nämlich schon unter den ersten Kaisern eine weite Verbreitung gefunden und war im ganzen römischen Reich so zu sagen Mode geworden; als er dann mit jener anderen grossen religiösen Bewegung verschmolz, so dass hinfürder Mode und tiefe Überzeugung Hand in Hand gehen konnten, war ihm der Sieg gesichert, und seitdem blieb bis auf den heutigen Tag die Göttin Mutter die herrschende Gestalt in der Reli- gion Italiens.« 1) Derselbe Verfasser zeigt dann auch, wie die Ver- ehrung des Horus als eines göttlichen Kindes auf die Vorstellungen 1) Religion and conscience in ancient Egypt, ed. 1898, p. 46. Alljährlich entdeckt man in den verschiedensten Teilen von Europa neue Beweise von der allgemeinen Verbreitung des Isiskult an allen Orten, bis wohin der Einfluss des römischen Völkerchaos gedrungen war. Der Glaube an die Auferstehung des Leibes und die Mitteilung des unsterblich machenden Stoffes in einem Sakrament waren schon lange vor Christi Geburt Bestandteile dieser Mysterien. Die zahlreichsten Belege findet man im Musée Guimet vereint, da Gallien (nebst Italien) der Hauptsitz des Isiskult war

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 557. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/36>, abgerufen am 16.04.2024.