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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Schlusswort.
ist die Natur; doch gaben Philosophen und Naturforscher Goethe
Recht, als er sprach: "die würdigste Auslegerin der Natur ist die Kunst."1)

Wie viel wäre gerade hier noch hinzuzufügen! Doch ich habe nicht
allein den Schlusstein zu dem Notbrückenbau dieses Kapitels schon gelegt,
sondern damit zugleich zu diesem ganzen Buche, welches ich auch -- vom
Anfang bis zum Ende -- nicht anders als wie einen Notbrückenbau be-
trachte und betrachtet wissen will. Ich sagte gleich zu Beginn (siehe die
erste Seite des Vorworts), ich wolle nicht belehren; selbst an den sehr
wenigen Stellen, wo ich über mehr Kenntnisse verfügte als der durch-
schnittlich gebildete Mensch, der nicht in dem betreffenden Fache be-
sonders bewandert ist, war ich bestrebt, dieses Wissen sich nicht hervor-
drängen zu lassen; denn mein Ziel war nicht, neue Thatsachen vor-
zubringen, sondern Allbekanntes zu gestalten, ich meine in der Art zu
gestalten, dass es vor dem Bewusstsein ein lebendiges Ganzes bilde. Was
Schiller von der Schönheit sagt -- sie sei zugleich unser Zustand und
unsere That -- gestattet eine Anwendung auf das Wissen. Zunächst
ist Wissen etwas rein Gegenständliches, es bildet keinen Bestandteil der
wissenden Person; wird aber dieses Wissen "gestaltet", so tritt es in
das Bewusstsein als lebendiger Bestandteil desselben ein und ist nun-
mehr "ein Zustand unseres Subjektes". Dieses Wissen kann ich jetzt
von allen Seiten betrachten, es gewissermassen um- und umwenden.
Das ist schon viel gewonnen, sehr viel. Doch es kommt noch mehr.
Ein Wissen, das ein Zustand meines Ich geworden ist, betrachte ich
nicht bloss, ich fühle es; es ist ein Teil meines Lebens: "mit einem
Wort, es ist zugleich mein Zustand und meine That". Wissen zu
That umwandeln! die Vergangenheit so zusammenfassen, nicht dass
man mit hohler, erborgter Gelehrsamkeit über längst verscharrte
Dinge prunke, sondern, dass das Wissen von dem Vergangenen eine
lebendige, bestimmende Kraft der Gegenwart werde! ein Wissen, so
tief ins Bewusstsein eingedrungen, dass es auch unbewusst das Urteil
bestimme! Gewiss ein hohes, erstrebenswertes Ziel. Und zwar um
so erstrebenswerter, je unübersichtlicher alles Wissen durch die zu-
nehmende Anhäufung des Gewussten wird. "Um sich aus der grenzen-
losen Vielfachheit wieder ins Einfache zu retten, muss man sich immer
die Frage vorlegen: wie würde sich Plato benommen haben"? -- so
belehrt uns unser grösster Germane, Goethe. Doch möchte man bei
diesem Spruche schier verzweifeln, denn wer wagt es, zu antworten:

1) Maximen und Reflexionen.
64*

Schlusswort.
ist die Natur; doch gaben Philosophen und Naturforscher Goethe
Recht, als er sprach: »die würdigste Auslegerin der Natur ist die Kunst.«1)

Wie viel wäre gerade hier noch hinzuzufügen! Doch ich habe nicht
allein den Schlusstein zu dem Notbrückenbau dieses Kapitels schon gelegt,
sondern damit zugleich zu diesem ganzen Buche, welches ich auch — vom
Anfang bis zum Ende — nicht anders als wie einen Notbrückenbau be-
trachte und betrachtet wissen will. Ich sagte gleich zu Beginn (siehe die
erste Seite des Vorworts), ich wolle nicht belehren; selbst an den sehr
wenigen Stellen, wo ich über mehr Kenntnisse verfügte als der durch-
schnittlich gebildete Mensch, der nicht in dem betreffenden Fache be-
sonders bewandert ist, war ich bestrebt, dieses Wissen sich nicht hervor-
drängen zu lassen; denn mein Ziel war nicht, neue Thatsachen vor-
zubringen, sondern Allbekanntes zu gestalten, ich meine in der Art zu
gestalten, dass es vor dem Bewusstsein ein lebendiges Ganzes bilde. Was
Schiller von der Schönheit sagt — sie sei zugleich unser Zustand und
unsere That — gestattet eine Anwendung auf das Wissen. Zunächst
ist Wissen etwas rein Gegenständliches, es bildet keinen Bestandteil der
wissenden Person; wird aber dieses Wissen »gestaltet«, so tritt es in
das Bewusstsein als lebendiger Bestandteil desselben ein und ist nun-
mehr »ein Zustand unseres Subjektes«. Dieses Wissen kann ich jetzt
von allen Seiten betrachten, es gewissermassen um- und umwenden.
Das ist schon viel gewonnen, sehr viel. Doch es kommt noch mehr.
Ein Wissen, das ein Zustand meines Ich geworden ist, betrachte ich
nicht bloss, ich fühle es; es ist ein Teil meines Lebens: »mit einem
Wort, es ist zugleich mein Zustand und meine That«. Wissen zu
That umwandeln! die Vergangenheit so zusammenfassen, nicht dass
man mit hohler, erborgter Gelehrsamkeit über längst verscharrte
Dinge prunke, sondern, dass das Wissen von dem Vergangenen eine
lebendige, bestimmende Kraft der Gegenwart werde! ein Wissen, so
tief ins Bewusstsein eingedrungen, dass es auch unbewusst das Urteil
bestimme! Gewiss ein hohes, erstrebenswertes Ziel. Und zwar um
so erstrebenswerter, je unübersichtlicher alles Wissen durch die zu-
nehmende Anhäufung des Gewussten wird. »Um sich aus der grenzen-
losen Vielfachheit wieder ins Einfache zu retten, muss man sich immer
die Frage vorlegen: wie würde sich Plato benommen haben«? — so
belehrt uns unser grösster Germane, Goethe. Doch möchte man bei
diesem Spruche schier verzweifeln, denn wer wagt es, zu antworten:

1) Maximen und Reflexionen.
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[1003/0482] Schlusswort. ist die Natur; doch gaben Philosophen und Naturforscher Goethe Recht, als er sprach: »die würdigste Auslegerin der Natur ist die Kunst.« 1) Wie viel wäre gerade hier noch hinzuzufügen! Doch ich habe nicht allein den Schlusstein zu dem Notbrückenbau dieses Kapitels schon gelegt, sondern damit zugleich zu diesem ganzen Buche, welches ich auch — vom Anfang bis zum Ende — nicht anders als wie einen Notbrückenbau be- trachte und betrachtet wissen will. Ich sagte gleich zu Beginn (siehe die erste Seite des Vorworts), ich wolle nicht belehren; selbst an den sehr wenigen Stellen, wo ich über mehr Kenntnisse verfügte als der durch- schnittlich gebildete Mensch, der nicht in dem betreffenden Fache be- sonders bewandert ist, war ich bestrebt, dieses Wissen sich nicht hervor- drängen zu lassen; denn mein Ziel war nicht, neue Thatsachen vor- zubringen, sondern Allbekanntes zu gestalten, ich meine in der Art zu gestalten, dass es vor dem Bewusstsein ein lebendiges Ganzes bilde. Was Schiller von der Schönheit sagt — sie sei zugleich unser Zustand und unsere That — gestattet eine Anwendung auf das Wissen. Zunächst ist Wissen etwas rein Gegenständliches, es bildet keinen Bestandteil der wissenden Person; wird aber dieses Wissen »gestaltet«, so tritt es in das Bewusstsein als lebendiger Bestandteil desselben ein und ist nun- mehr »ein Zustand unseres Subjektes«. Dieses Wissen kann ich jetzt von allen Seiten betrachten, es gewissermassen um- und umwenden. Das ist schon viel gewonnen, sehr viel. Doch es kommt noch mehr. Ein Wissen, das ein Zustand meines Ich geworden ist, betrachte ich nicht bloss, ich fühle es; es ist ein Teil meines Lebens: »mit einem Wort, es ist zugleich mein Zustand und meine That«. Wissen zu That umwandeln! die Vergangenheit so zusammenfassen, nicht dass man mit hohler, erborgter Gelehrsamkeit über längst verscharrte Dinge prunke, sondern, dass das Wissen von dem Vergangenen eine lebendige, bestimmende Kraft der Gegenwart werde! ein Wissen, so tief ins Bewusstsein eingedrungen, dass es auch unbewusst das Urteil bestimme! Gewiss ein hohes, erstrebenswertes Ziel. Und zwar um so erstrebenswerter, je unübersichtlicher alles Wissen durch die zu- nehmende Anhäufung des Gewussten wird. »Um sich aus der grenzen- losen Vielfachheit wieder ins Einfache zu retten, muss man sich immer die Frage vorlegen: wie würde sich Plato benommen haben«? — so belehrt uns unser grösster Germane, Goethe. Doch möchte man bei diesem Spruche schier verzweifeln, denn wer wagt es, zu antworten: 1) Maximen und Reflexionen. 64*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 1003. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/482>, abgerufen am 23.04.2024.