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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
fast lediglich in den grossen Centren der helleno-römischen Civilisation
gepredigt und zwar mit Vorliebe dort, wo die Judengemeinden nicht
gross waren. Städte wie Lystra und Derbe, die man in theologischen
Kommentaren bisher für unbedeutende, kaum civilisierte Ortschaften
erklärte, waren im Gegenteil Mittelpunkte hellenischer Bildung und
römischen Lebens. Damit hängt denn auch eine zweite sehr wichtige
Entdeckung zusammen: das Christentum hat sich nicht zuerst unter
den Armen und Ungebildeten verbreitet, wie man bislang annahm,
sondern im Gegenteil unter den Gebildeten und Bestgestellten. "Wo
römische Organisation und griechisches Denken sich Bahn gebrochen
hatten, dorthin wandte sich Paulus", berichtet Ramsay,1) und Karl
Müller bezeugt:2) "Die Kreise, die Paulus gewonnen, waren der Haupt-
sache nach nie jüdisch gewesen." -- Und dennoch, dieser Mann
ist ein Jude; er ist stolz auf seine Abstammung,3) er ist von jüdischen
Vorstellungen wie durchtränkt, er ist ein Meister rabbinischer Dialektik,
und er ist es, mehr als irgend ein anderer, der die historische Denk-
weise und die Traditionen des Alten Testamentes zu einem integrieren-
den, bleibenden Bestandteil des Christentums stempelt.4)

Obwohl mein Thema die Religion ist, habe ich bei Paulus auf
diese mehr äusserlichen Momente mit Absicht Nachdruck gelegt, weil
mir als einem Laien bei Betreten des theologischen Religionsgebietes die
grösste Vorsicht und Reserve zur Pflicht wird. Gern möchte ich Satz
für Satz darlegen, was über Paulus nach meiner Überzeugung zu sagen
wäre, doch wie oft dreht sich da alles um den Sinn eines einzigen
(womöglich zweifelhaften) Wortes; unsereiner kann nur dann sicher
gehen, wenn er tiefer greift, bis dorthin, woher die Worte entfliessen.
Dorther ruft uns Paulus beherzt zu: "Ich von Gottes Gnade, die mir
gegeben ist, habe den Grund gelegt als ein weiser Baumeister; ein
Jeglicher sehe zu, wie er darauf baue!" (I. Cor. III, 10). Und sehen
wir nun zu -- folgen wir der Mahnung des Paulus, diese Sorge nicht
Anderen zu überlassen -- so entdecken wir, auch ohne das Gebiet
der gelehrten Diskussionen zu betreten, dass die von Paulus gelegte
Grundlage der christlichen Religion aus disparaten Elementen besteht.
In seinem tiefsten inneren Wesen, in seiner Auffassung von der Be-

1) The Church etc., 4th| ed. p. 57.
2) Kirchengeschichte (1892) I, 26.
3) Siehe namentlich Gal. II, 15: "Wiewohl wir von Natur Juden, und nicht
Sünder aus den Heiden sind", und manche andere Stelle.
4) Harnack: a. a. O., S. 15.

Religion.
fast lediglich in den grossen Centren der helleno-römischen Civilisation
gepredigt und zwar mit Vorliebe dort, wo die Judengemeinden nicht
gross waren. Städte wie Lystra und Derbe, die man in theologischen
Kommentaren bisher für unbedeutende, kaum civilisierte Ortschaften
erklärte, waren im Gegenteil Mittelpunkte hellenischer Bildung und
römischen Lebens. Damit hängt denn auch eine zweite sehr wichtige
Entdeckung zusammen: das Christentum hat sich nicht zuerst unter
den Armen und Ungebildeten verbreitet, wie man bislang annahm,
sondern im Gegenteil unter den Gebildeten und Bestgestellten. »Wo
römische Organisation und griechisches Denken sich Bahn gebrochen
hatten, dorthin wandte sich Paulus«, berichtet Ramsay,1) und Karl
Müller bezeugt:2) »Die Kreise, die Paulus gewonnen, waren der Haupt-
sache nach nie jüdisch gewesen.« — Und dennoch, dieser Mann
ist ein Jude; er ist stolz auf seine Abstammung,3) er ist von jüdischen
Vorstellungen wie durchtränkt, er ist ein Meister rabbinischer Dialektik,
und er ist es, mehr als irgend ein anderer, der die historische Denk-
weise und die Traditionen des Alten Testamentes zu einem integrieren-
den, bleibenden Bestandteil des Christentums stempelt.4)

Obwohl mein Thema die Religion ist, habe ich bei Paulus auf
diese mehr äusserlichen Momente mit Absicht Nachdruck gelegt, weil
mir als einem Laien bei Betreten des theologischen Religionsgebietes die
grösste Vorsicht und Reserve zur Pflicht wird. Gern möchte ich Satz
für Satz darlegen, was über Paulus nach meiner Überzeugung zu sagen
wäre, doch wie oft dreht sich da alles um den Sinn eines einzigen
(womöglich zweifelhaften) Wortes; unsereiner kann nur dann sicher
gehen, wenn er tiefer greift, bis dorthin, woher die Worte entfliessen.
Dorther ruft uns Paulus beherzt zu: »Ich von Gottes Gnade, die mir
gegeben ist, habe den Grund gelegt als ein weiser Baumeister; ein
Jeglicher sehe zu, wie er darauf baue!« (I. Cor. III, 10). Und sehen
wir nun zu — folgen wir der Mahnung des Paulus, diese Sorge nicht
Anderen zu überlassen — so entdecken wir, auch ohne das Gebiet
der gelehrten Diskussionen zu betreten, dass die von Paulus gelegte
Grundlage der christlichen Religion aus disparaten Elementen besteht.
In seinem tiefsten inneren Wesen, in seiner Auffassung von der Be-

1) The Church etc., 4th| ed. p. 57.
2) Kirchengeschichte (1892) I, 26.
3) Siehe namentlich Gal. II, 15: »Wiewohl wir von Natur Juden, und nicht
Sünder aus den Heiden sind«, und manche andere Stelle.
4) Harnack: a. a. O., S. 15.
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[583/0062] Religion. fast lediglich in den grossen Centren der helleno-römischen Civilisation gepredigt und zwar mit Vorliebe dort, wo die Judengemeinden nicht gross waren. Städte wie Lystra und Derbe, die man in theologischen Kommentaren bisher für unbedeutende, kaum civilisierte Ortschaften erklärte, waren im Gegenteil Mittelpunkte hellenischer Bildung und römischen Lebens. Damit hängt denn auch eine zweite sehr wichtige Entdeckung zusammen: das Christentum hat sich nicht zuerst unter den Armen und Ungebildeten verbreitet, wie man bislang annahm, sondern im Gegenteil unter den Gebildeten und Bestgestellten. »Wo römische Organisation und griechisches Denken sich Bahn gebrochen hatten, dorthin wandte sich Paulus«, berichtet Ramsay, 1) und Karl Müller bezeugt: 2) »Die Kreise, die Paulus gewonnen, waren der Haupt- sache nach nie jüdisch gewesen.« — Und dennoch, dieser Mann ist ein Jude; er ist stolz auf seine Abstammung, 3) er ist von jüdischen Vorstellungen wie durchtränkt, er ist ein Meister rabbinischer Dialektik, und er ist es, mehr als irgend ein anderer, der die historische Denk- weise und die Traditionen des Alten Testamentes zu einem integrieren- den, bleibenden Bestandteil des Christentums stempelt. 4) Obwohl mein Thema die Religion ist, habe ich bei Paulus auf diese mehr äusserlichen Momente mit Absicht Nachdruck gelegt, weil mir als einem Laien bei Betreten des theologischen Religionsgebietes die grösste Vorsicht und Reserve zur Pflicht wird. Gern möchte ich Satz für Satz darlegen, was über Paulus nach meiner Überzeugung zu sagen wäre, doch wie oft dreht sich da alles um den Sinn eines einzigen (womöglich zweifelhaften) Wortes; unsereiner kann nur dann sicher gehen, wenn er tiefer greift, bis dorthin, woher die Worte entfliessen. Dorther ruft uns Paulus beherzt zu: »Ich von Gottes Gnade, die mir gegeben ist, habe den Grund gelegt als ein weiser Baumeister; ein Jeglicher sehe zu, wie er darauf baue!« (I. Cor. III, 10). Und sehen wir nun zu — folgen wir der Mahnung des Paulus, diese Sorge nicht Anderen zu überlassen — so entdecken wir, auch ohne das Gebiet der gelehrten Diskussionen zu betreten, dass die von Paulus gelegte Grundlage der christlichen Religion aus disparaten Elementen besteht. In seinem tiefsten inneren Wesen, in seiner Auffassung von der Be- 1) The Church etc., 4th| ed. p. 57. 2) Kirchengeschichte (1892) I, 26. 3) Siehe namentlich Gal. II, 15: »Wiewohl wir von Natur Juden, und nicht Sünder aus den Heiden sind«, und manche andere Stelle. 4) Harnack: a. a. O., S. 15.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 583. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/62>, abgerufen am 25.04.2024.