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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
schauung zu hegen, die einen schärferen Gegensatz zu aller semitischen
und speziell jüdischen Religion darstellte. Das ist so wahr, dass Paulus
nicht allein zu seinen Lebzeiten von den Judenchristen angefeindet
wurde, sondern dass gerade dieser Kern seiner Religion anderthalb
Jahrtausende innerhalb des Christentums unter dem überwuchernden
Gestrüpp des jüdischen Rationalismus und der heidnischen Superstitionen
verborgen blieb -- anathematisiert, wenn er in Männern wie Origenes
wieder aufzutauchen versuchte, bis zur Unkenntlichkeit zugeschüttet
von dem tief religiösen, im Herzen echt paulinischen, doch von dem
entgegengesetzten Strom hinweggerissenen Augustinus. Hier mussten
Germanen eingreifen; noch heute giebt es ausser ihnen keine echten
Jünger des Paulus: ein Umstand, dessen volle Bedeutung Jedem ein-
leuchten wird, wenn er erfährt, dass vor zwei Jahrhunderten die
Jesuiten berieten, wie man die Briefe des Paulus aus der heiligen Schrift
entfernen oder sie korrigieren könne.1) -- Doch Paulus selber hatte
das Werk des Antipaulinismus begonnen, indem er um diesen so offen-
bar aus einer indoeuropäischen Seele hervorgegangenen Kern herum
ein durchaus jüdisches Gebäude errichtete, eine Art Gitterwerk, durch
welches zwar ein kongeniales Auge überall hindurchzublicken vermag,
welches aber für das inmitten des unseligen Chaos werdende Christen-
tum so ganz zur Hauptsache ward, dass der Kern von den Meisten
so gut wie unbeachtet blieb. Dieses Aussenwerk konnte aber natürlich
nicht die lückenlose Konsequenz eines reinen Systems wie des jüdischen
oder indischen besitzen. An und für sich ein Widerspruch zu dem

Werke nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesum Christum"
(Gal. II, 16). Gnade aber und Glaube sind nur zwei Phasen, zwei Modi -- der
göttliche und der menschliche -- desselben Vorganges; darum ist in folgender
Hauptstelle der Glaube als in der Gnade einbegriffen zu denken: "Ist es aber aus
Gnaden, so ist es nicht aus Verdienst der Werke; sonst würde Gnade nicht Gnade
sein. Ist es aber aus Verdienst der Werke, so ist die Gnade nichts; sonst wäre
Verdienst nicht Verdienst" (Rom. XI, 6). -- Die Wiedergeburt wird in einer der
indoplatonischen Auffassung verwandten Weise als "Paliggenesia" in dem Brief an
Titus
genannt (III, 5).
1) Pierre Bayle: Dictionnaire; siehe die letzte Anmerkung zu der Notiz über
den Jesuiten Jean Adam, der im Jahre 1650 viel Ärgernis durch seine öffentlichen
Kanzelreden gegen Augustinus gab. Dieser Nachricht darf man unbedingtes Ver-
trauen schenken, da Bayle den Jesuiten durchaus sympathisch gegenüberstand und
bis zu seinem Tode in persönlichem freundschaftlichen Verkehr mit ihnen blieb.
Auch der berühmte Pere de La Chaise erklärt, "Augustinus dürfe nur mit Vorsicht
gelesen werden", was sich natürlich auf die Paulinischen Bestandteile seiner Religion
bezieht (vergl. Sainte-Beuve: Port-Royal, 4. ed., II, 134 und IV, 436).

Religion.
schauung zu hegen, die einen schärferen Gegensatz zu aller semitischen
und speziell jüdischen Religion darstellte. Das ist so wahr, dass Paulus
nicht allein zu seinen Lebzeiten von den Judenchristen angefeindet
wurde, sondern dass gerade dieser Kern seiner Religion anderthalb
Jahrtausende innerhalb des Christentums unter dem überwuchernden
Gestrüpp des jüdischen Rationalismus und der heidnischen Superstitionen
verborgen blieb — anathematisiert, wenn er in Männern wie Origenes
wieder aufzutauchen versuchte, bis zur Unkenntlichkeit zugeschüttet
von dem tief religiösen, im Herzen echt paulinischen, doch von dem
entgegengesetzten Strom hinweggerissenen Augustinus. Hier mussten
Germanen eingreifen; noch heute giebt es ausser ihnen keine echten
Jünger des Paulus: ein Umstand, dessen volle Bedeutung Jedem ein-
leuchten wird, wenn er erfährt, dass vor zwei Jahrhunderten die
Jesuiten berieten, wie man die Briefe des Paulus aus der heiligen Schrift
entfernen oder sie korrigieren könne.1) — Doch Paulus selber hatte
das Werk des Antipaulinismus begonnen, indem er um diesen so offen-
bar aus einer indoeuropäischen Seele hervorgegangenen Kern herum
ein durchaus jüdisches Gebäude errichtete, eine Art Gitterwerk, durch
welches zwar ein kongeniales Auge überall hindurchzublicken vermag,
welches aber für das inmitten des unseligen Chaos werdende Christen-
tum so ganz zur Hauptsache ward, dass der Kern von den Meisten
so gut wie unbeachtet blieb. Dieses Aussenwerk konnte aber natürlich
nicht die lückenlose Konsequenz eines reinen Systems wie des jüdischen
oder indischen besitzen. An und für sich ein Widerspruch zu dem

Werke nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesum Christum«
(Gal. II, 16). Gnade aber und Glaube sind nur zwei Phasen, zwei Modi — der
göttliche und der menschliche — desselben Vorganges; darum ist in folgender
Hauptstelle der Glaube als in der Gnade einbegriffen zu denken: »Ist es aber aus
Gnaden, so ist es nicht aus Verdienst der Werke; sonst würde Gnade nicht Gnade
sein. Ist es aber aus Verdienst der Werke, so ist die Gnade nichts; sonst wäre
Verdienst nicht Verdienst« (Rom. XI, 6). — Die Wiedergeburt wird in einer der
indoplatonischen Auffassung verwandten Weise als »Paliggenesia« in dem Brief an
Titus
genannt (III, 5).
1) Pierre Bayle: Dictionnaire; siehe die letzte Anmerkung zu der Notiz über
den Jesuiten Jean Adam, der im Jahre 1650 viel Ärgernis durch seine öffentlichen
Kanzelreden gegen Augustinus gab. Dieser Nachricht darf man unbedingtes Ver-
trauen schenken, da Bayle den Jesuiten durchaus sympathisch gegenüberstand und
bis zu seinem Tode in persönlichem freundschaftlichen Verkehr mit ihnen blieb.
Auch der berühmte Père de La Chaise erklärt, »Augustinus dürfe nur mit Vorsicht
gelesen werden«, was sich natürlich auf die Paulinischen Bestandteile seiner Religion
bezieht (vergl. Sainte-Beuve: Port-Royal, 4. éd., II, 134 und IV, 436).
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[585/0064] Religion. schauung zu hegen, die einen schärferen Gegensatz zu aller semitischen und speziell jüdischen Religion darstellte. Das ist so wahr, dass Paulus nicht allein zu seinen Lebzeiten von den Judenchristen angefeindet wurde, sondern dass gerade dieser Kern seiner Religion anderthalb Jahrtausende innerhalb des Christentums unter dem überwuchernden Gestrüpp des jüdischen Rationalismus und der heidnischen Superstitionen verborgen blieb — anathematisiert, wenn er in Männern wie Origenes wieder aufzutauchen versuchte, bis zur Unkenntlichkeit zugeschüttet von dem tief religiösen, im Herzen echt paulinischen, doch von dem entgegengesetzten Strom hinweggerissenen Augustinus. Hier mussten Germanen eingreifen; noch heute giebt es ausser ihnen keine echten Jünger des Paulus: ein Umstand, dessen volle Bedeutung Jedem ein- leuchten wird, wenn er erfährt, dass vor zwei Jahrhunderten die Jesuiten berieten, wie man die Briefe des Paulus aus der heiligen Schrift entfernen oder sie korrigieren könne. 1) — Doch Paulus selber hatte das Werk des Antipaulinismus begonnen, indem er um diesen so offen- bar aus einer indoeuropäischen Seele hervorgegangenen Kern herum ein durchaus jüdisches Gebäude errichtete, eine Art Gitterwerk, durch welches zwar ein kongeniales Auge überall hindurchzublicken vermag, welches aber für das inmitten des unseligen Chaos werdende Christen- tum so ganz zur Hauptsache ward, dass der Kern von den Meisten so gut wie unbeachtet blieb. Dieses Aussenwerk konnte aber natürlich nicht die lückenlose Konsequenz eines reinen Systems wie des jüdischen oder indischen besitzen. An und für sich ein Widerspruch zu dem 1) 1) Pierre Bayle: Dictionnaire; siehe die letzte Anmerkung zu der Notiz über den Jesuiten Jean Adam, der im Jahre 1650 viel Ärgernis durch seine öffentlichen Kanzelreden gegen Augustinus gab. Dieser Nachricht darf man unbedingtes Ver- trauen schenken, da Bayle den Jesuiten durchaus sympathisch gegenüberstand und bis zu seinem Tode in persönlichem freundschaftlichen Verkehr mit ihnen blieb. Auch der berühmte Père de La Chaise erklärt, »Augustinus dürfe nur mit Vorsicht gelesen werden«, was sich natürlich auf die Paulinischen Bestandteile seiner Religion bezieht (vergl. Sainte-Beuve: Port-Royal, 4. éd., II, 134 und IV, 436). 1) Werke nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an Jesum Christum« (Gal. II, 16). Gnade aber und Glaube sind nur zwei Phasen, zwei Modi — der göttliche und der menschliche — desselben Vorganges; darum ist in folgender Hauptstelle der Glaube als in der Gnade einbegriffen zu denken: »Ist es aber aus Gnaden, so ist es nicht aus Verdienst der Werke; sonst würde Gnade nicht Gnade sein. Ist es aber aus Verdienst der Werke, so ist die Gnade nichts; sonst wäre Verdienst nicht Verdienst« (Rom. XI, 6). — Die Wiedergeburt wird in einer der indoplatonischen Auffassung verwandten Weise als »Paliggenesia« in dem Brief an Titus genannt (III, 5).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 585. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/64>, abgerufen am 18.04.2024.