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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
Widerspruch. Ein solcher Widerspruch führt notwendig zum Kampfe.
Nicht notwendigerweise im Herzen des einen Urhebers, denn unser
Menschengeist ist reich an automatisch wirkenden Anpassungsein-
richtungen; genau so wie die Augenlinse auf verschiedene Entfernungen
sich accomodiert, wobei das, was das eine Mal scharf erblickt wurde,
das andere Mal fast bis zur Unkenntlichkeit verwischt erscheint, genau
so wechselt das innere Bild mit dem Augenpunkt, und es kann vor-
kommen, dass auf den verschiedenen Ebenen unserer Weltanschauung
Dinge stehen, die miteinander keineswegs harmonieren, ohne dass wir
selber jemals dessen gewahr würden; denn betrachten wir das Eine,
so verschwinden die Umrisse des Anderen, und umgekehrt. Wir
müssen also unterscheiden zwischen denjenigen logischen Widersprüchen,
die vom gemarterten Geist mit vollem Bewusstsein notgedrungen auf-
gestellt werden, wie z. B. von Augustinus, der immerwährend zwischen
seiner Überzeugung und seiner angelernten Rechtgläubigkeit, zwischen
seiner Intuition und seinem Wunsche, praktischen Kirchenbedürfnissen
zu dienen, hin- und herschwankt, und den unbewussten Widersprüchen
eines offenherzigen, völlig naiven Geistes wie Paulus. Doch diese Unter-
scheidung dient nur zur Erkenntnis der besonderen Persönlichkeit; der
Widerspruch als solcher bleibt bestehen. Zwar gesteht Paulus selber, dass
er "Jedermann allerlei" wird, und das erklärt wohl einige Abweichungen;
die Sache liegt aber tiefer. In dieser Brust wohnen zwei Seelen: eine
jüdische und eine unjüdische, oder vielmehr: eine unjüdische beflügelte
Seele angekettet an eine jüdische Denkmaschine. Solange die grosse
Persönlichkeit lebte, wirkte sie als Einheit durch die Einheitlichkeit
ihres Thuns, durch die Modulationsfähigkeit ihres Wortes. Nach
ihrem Tode aber blieb der Buchstabe zurück, der Buchstabe, dessen
verhängnisvolle Eigenschaft es ist, alles auf eine und dieselbe Ebene
zu bringen; der Buchstabe, der alle Plastik der Perspektive vernichtet
und nur eine einzige Fläche kennt -- die Oberfläche! Hier stand
nun Widerspruch neben Widerspruch, nicht wie die Farben des Regen-
bogens, die ineinander übergehen, sondern wie Licht und Finsternis,
die einander ausschliessen. Der Kampf war unvermeidlich. Äusser-
lich fand er von Anfang an in Dogmen- und Sektenbildung statt;
nirgends gewann er gewaltigeren Ausdruck, als in der grossen und
durchaus von Paulus inspirierten Reformation, die im 13. Jahrhundert
anhob und zu ihrem Wahlspruch die Worte hätte wählen können:
"So bestehet nun in der Freiheit und lasst euch nicht wiederum
in das knechtische Joch fangen", Gal. V, 1; auch heute dauert der

Der Kampf.
Widerspruch. Ein solcher Widerspruch führt notwendig zum Kampfe.
Nicht notwendigerweise im Herzen des einen Urhebers, denn unser
Menschengeist ist reich an automatisch wirkenden Anpassungsein-
richtungen; genau so wie die Augenlinse auf verschiedene Entfernungen
sich accomodiert, wobei das, was das eine Mal scharf erblickt wurde,
das andere Mal fast bis zur Unkenntlichkeit verwischt erscheint, genau
so wechselt das innere Bild mit dem Augenpunkt, und es kann vor-
kommen, dass auf den verschiedenen Ebenen unserer Weltanschauung
Dinge stehen, die miteinander keineswegs harmonieren, ohne dass wir
selber jemals dessen gewahr würden; denn betrachten wir das Eine,
so verschwinden die Umrisse des Anderen, und umgekehrt. Wir
müssen also unterscheiden zwischen denjenigen logischen Widersprüchen,
die vom gemarterten Geist mit vollem Bewusstsein notgedrungen auf-
gestellt werden, wie z. B. von Augustinus, der immerwährend zwischen
seiner Überzeugung und seiner angelernten Rechtgläubigkeit, zwischen
seiner Intuition und seinem Wunsche, praktischen Kirchenbedürfnissen
zu dienen, hin- und herschwankt, und den unbewussten Widersprüchen
eines offenherzigen, völlig naiven Geistes wie Paulus. Doch diese Unter-
scheidung dient nur zur Erkenntnis der besonderen Persönlichkeit; der
Widerspruch als solcher bleibt bestehen. Zwar gesteht Paulus selber, dass
er »Jedermann allerlei« wird, und das erklärt wohl einige Abweichungen;
die Sache liegt aber tiefer. In dieser Brust wohnen zwei Seelen: eine
jüdische und eine unjüdische, oder vielmehr: eine unjüdische beflügelte
Seele angekettet an eine jüdische Denkmaschine. Solange die grosse
Persönlichkeit lebte, wirkte sie als Einheit durch die Einheitlichkeit
ihres Thuns, durch die Modulationsfähigkeit ihres Wortes. Nach
ihrem Tode aber blieb der Buchstabe zurück, der Buchstabe, dessen
verhängnisvolle Eigenschaft es ist, alles auf eine und dieselbe Ebene
zu bringen; der Buchstabe, der alle Plastik der Perspektive vernichtet
und nur eine einzige Fläche kennt — die Oberfläche! Hier stand
nun Widerspruch neben Widerspruch, nicht wie die Farben des Regen-
bogens, die ineinander übergehen, sondern wie Licht und Finsternis,
die einander ausschliessen. Der Kampf war unvermeidlich. Äusser-
lich fand er von Anfang an in Dogmen- und Sektenbildung statt;
nirgends gewann er gewaltigeren Ausdruck, als in der grossen und
durchaus von Paulus inspirierten Reformation, die im 13. Jahrhundert
anhob und zu ihrem Wahlspruch die Worte hätte wählen können:
»So bestehet nun in der Freiheit und lasst euch nicht wiederum
in das knechtische Joch fangen«, Gal. V, 1; auch heute dauert der

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[588/0067] Der Kampf. Widerspruch. Ein solcher Widerspruch führt notwendig zum Kampfe. Nicht notwendigerweise im Herzen des einen Urhebers, denn unser Menschengeist ist reich an automatisch wirkenden Anpassungsein- richtungen; genau so wie die Augenlinse auf verschiedene Entfernungen sich accomodiert, wobei das, was das eine Mal scharf erblickt wurde, das andere Mal fast bis zur Unkenntlichkeit verwischt erscheint, genau so wechselt das innere Bild mit dem Augenpunkt, und es kann vor- kommen, dass auf den verschiedenen Ebenen unserer Weltanschauung Dinge stehen, die miteinander keineswegs harmonieren, ohne dass wir selber jemals dessen gewahr würden; denn betrachten wir das Eine, so verschwinden die Umrisse des Anderen, und umgekehrt. Wir müssen also unterscheiden zwischen denjenigen logischen Widersprüchen, die vom gemarterten Geist mit vollem Bewusstsein notgedrungen auf- gestellt werden, wie z. B. von Augustinus, der immerwährend zwischen seiner Überzeugung und seiner angelernten Rechtgläubigkeit, zwischen seiner Intuition und seinem Wunsche, praktischen Kirchenbedürfnissen zu dienen, hin- und herschwankt, und den unbewussten Widersprüchen eines offenherzigen, völlig naiven Geistes wie Paulus. Doch diese Unter- scheidung dient nur zur Erkenntnis der besonderen Persönlichkeit; der Widerspruch als solcher bleibt bestehen. Zwar gesteht Paulus selber, dass er »Jedermann allerlei« wird, und das erklärt wohl einige Abweichungen; die Sache liegt aber tiefer. In dieser Brust wohnen zwei Seelen: eine jüdische und eine unjüdische, oder vielmehr: eine unjüdische beflügelte Seele angekettet an eine jüdische Denkmaschine. Solange die grosse Persönlichkeit lebte, wirkte sie als Einheit durch die Einheitlichkeit ihres Thuns, durch die Modulationsfähigkeit ihres Wortes. Nach ihrem Tode aber blieb der Buchstabe zurück, der Buchstabe, dessen verhängnisvolle Eigenschaft es ist, alles auf eine und dieselbe Ebene zu bringen; der Buchstabe, der alle Plastik der Perspektive vernichtet und nur eine einzige Fläche kennt — die Oberfläche! Hier stand nun Widerspruch neben Widerspruch, nicht wie die Farben des Regen- bogens, die ineinander übergehen, sondern wie Licht und Finsternis, die einander ausschliessen. Der Kampf war unvermeidlich. Äusser- lich fand er von Anfang an in Dogmen- und Sektenbildung statt; nirgends gewann er gewaltigeren Ausdruck, als in der grossen und durchaus von Paulus inspirierten Reformation, die im 13. Jahrhundert anhob und zu ihrem Wahlspruch die Worte hätte wählen können: »So bestehet nun in der Freiheit und lasst euch nicht wiederum in das knechtische Joch fangen«, Gal. V, 1; auch heute dauert der

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 588. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/67>, abgerufen am 25.04.2024.