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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
Kampf zwischen der jüdischen und unjüdischen Religion des Paulus
fort. Fast noch verhängnisvoller war und ist der innerliche Kampf
im Busen des einzelnen Christen, von Origenes bis zu Luther, und
von diesem bis zu jedem kirchlich-christlich gesinnten Manne unseres
19. Jahrhunderts. Paulus selber war noch durch keinerlei Dogmen
im Geringsten beschränkt gewesen. Von Christi Leben hat er nach-
weislich sehr wenig gewusst;1) dass er bei keinem Menschen, nicht
einmal bei den Jüngern des Heilands, selbst nicht bei denen, "die für
Säulen angesehen werden", Rat und Belehrung geholt habe, dessen
rühmt er sich ausdrücklich (Gal. I und II); weder weiss er irgend
etwas von der kosmischen Mythologie der Dreieinigkeit, noch lässt er
sich auf die metaphysiche Hypostase des Logos ein,2) noch ist er in
der peinlichen Lage, sich mit den Aussprüchen anderer Christen in
Einklang setzen zu müssen. An manchem zu seiner Zeit durch die
ganze Welt verbreiteten Aberglauben, welcher später zu einem christ-
lichen Dogma umgestaltet ward, geht er lächelnd vorüber, wie er
z. B. von den Engeln meint, man habe "nie keins gesehen" (Col. II, 18)
und solle sich nicht durch solche Vorstellungen "das Ziel verrücken
lassen"; er gesteht auch freimütig: "unser Wissen ist Stückwerk; wir
sehen jetzt wie in einem Spiegelbild nur Rätselhaftes" (I. Cor. XIII,
9, 12), und darum kann es ihm auch gar nicht einfallen, seinen leben-
digen Glauben in dogmatisches Stückwerk einzuschrauben: kurz, Paulus
war noch ein freier Mann gewesen. Nach ihm war es keiner mehr.
Denn durch sein eigenes Anknüpfen an das Alte Testament war jetzt
ein Neues Testament entstanden: das alte war offenbarte Wahrheit,
das neue folglich ebenfalls; das alte war wohlbezeugte geschichtliche
Chronik, das neue konnte nicht weniger sein. Während das alte aber
in später Zeit zielbewusst zusammengestellt und redigiert worden war,
war das beim neuen nicht der Fall; hier stand der eine Mann unver-
mittelt neben dem anderen. Lehrt z. B. Paulus überall in zähem Fest-
halten an dem einen grossen Grundprinzip aller idealen Religion: nicht die
Werke, sondern der Glaube ist das Erlösende, so spricht der unverfälschte
Jude Jakobus gleich darauf das Grunddogma aller materialistischen
Religion aus: nicht der Glaube, sondern die Werke machen selig.
Beides steht im Neuen Testament, beides ist folglich offenbarte Wahr-
heit. Dazu nun jener klaffende Widerspruch bei Paulus selber! Mögen
die Schriftgelehrten sagen, was sie wollen -- und zu ihnen müssen

1) Siehe namentlich Pfleiderer: a. a. O., S. III fg.
2) Eingehend und ungemein präcis bei Reuss: a. a. O., Buch V, Kap. 8.

Religion.
Kampf zwischen der jüdischen und unjüdischen Religion des Paulus
fort. Fast noch verhängnisvoller war und ist der innerliche Kampf
im Busen des einzelnen Christen, von Origenes bis zu Luther, und
von diesem bis zu jedem kirchlich-christlich gesinnten Manne unseres
19. Jahrhunderts. Paulus selber war noch durch keinerlei Dogmen
im Geringsten beschränkt gewesen. Von Christi Leben hat er nach-
weislich sehr wenig gewusst;1) dass er bei keinem Menschen, nicht
einmal bei den Jüngern des Heilands, selbst nicht bei denen, »die für
Säulen angesehen werden«, Rat und Belehrung geholt habe, dessen
rühmt er sich ausdrücklich (Gal. I und II); weder weiss er irgend
etwas von der kosmischen Mythologie der Dreieinigkeit, noch lässt er
sich auf die metaphysiche Hypostase des Logos ein,2) noch ist er in
der peinlichen Lage, sich mit den Aussprüchen anderer Christen in
Einklang setzen zu müssen. An manchem zu seiner Zeit durch die
ganze Welt verbreiteten Aberglauben, welcher später zu einem christ-
lichen Dogma umgestaltet ward, geht er lächelnd vorüber, wie er
z. B. von den Engeln meint, man habe »nie keins gesehen« (Col. II, 18)
und solle sich nicht durch solche Vorstellungen »das Ziel verrücken
lassen«; er gesteht auch freimütig: »unser Wissen ist Stückwerk; wir
sehen jetzt wie in einem Spiegelbild nur Rätselhaftes« (I. Cor. XIII,
9, 12), und darum kann es ihm auch gar nicht einfallen, seinen leben-
digen Glauben in dogmatisches Stückwerk einzuschrauben: kurz, Paulus
war noch ein freier Mann gewesen. Nach ihm war es keiner mehr.
Denn durch sein eigenes Anknüpfen an das Alte Testament war jetzt
ein Neues Testament entstanden: das alte war offenbarte Wahrheit,
das neue folglich ebenfalls; das alte war wohlbezeugte geschichtliche
Chronik, das neue konnte nicht weniger sein. Während das alte aber
in später Zeit zielbewusst zusammengestellt und redigiert worden war,
war das beim neuen nicht der Fall; hier stand der eine Mann unver-
mittelt neben dem anderen. Lehrt z. B. Paulus überall in zähem Fest-
halten an dem einen grossen Grundprinzip aller idealen Religion: nicht die
Werke, sondern der Glaube ist das Erlösende, so spricht der unverfälschte
Jude Jakobus gleich darauf das Grunddogma aller materialistischen
Religion aus: nicht der Glaube, sondern die Werke machen selig.
Beides steht im Neuen Testament, beides ist folglich offenbarte Wahr-
heit. Dazu nun jener klaffende Widerspruch bei Paulus selber! Mögen
die Schriftgelehrten sagen, was sie wollen — und zu ihnen müssen

1) Siehe namentlich Pfleiderer: a. a. O., S. III fg.
2) Eingehend und ungemein präcis bei Reuss: a. a. O., Buch V, Kap. 8.
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[589/0068] Religion. Kampf zwischen der jüdischen und unjüdischen Religion des Paulus fort. Fast noch verhängnisvoller war und ist der innerliche Kampf im Busen des einzelnen Christen, von Origenes bis zu Luther, und von diesem bis zu jedem kirchlich-christlich gesinnten Manne unseres 19. Jahrhunderts. Paulus selber war noch durch keinerlei Dogmen im Geringsten beschränkt gewesen. Von Christi Leben hat er nach- weislich sehr wenig gewusst; 1) dass er bei keinem Menschen, nicht einmal bei den Jüngern des Heilands, selbst nicht bei denen, »die für Säulen angesehen werden«, Rat und Belehrung geholt habe, dessen rühmt er sich ausdrücklich (Gal. I und II); weder weiss er irgend etwas von der kosmischen Mythologie der Dreieinigkeit, noch lässt er sich auf die metaphysiche Hypostase des Logos ein, 2) noch ist er in der peinlichen Lage, sich mit den Aussprüchen anderer Christen in Einklang setzen zu müssen. An manchem zu seiner Zeit durch die ganze Welt verbreiteten Aberglauben, welcher später zu einem christ- lichen Dogma umgestaltet ward, geht er lächelnd vorüber, wie er z. B. von den Engeln meint, man habe »nie keins gesehen« (Col. II, 18) und solle sich nicht durch solche Vorstellungen »das Ziel verrücken lassen«; er gesteht auch freimütig: »unser Wissen ist Stückwerk; wir sehen jetzt wie in einem Spiegelbild nur Rätselhaftes« (I. Cor. XIII, 9, 12), und darum kann es ihm auch gar nicht einfallen, seinen leben- digen Glauben in dogmatisches Stückwerk einzuschrauben: kurz, Paulus war noch ein freier Mann gewesen. Nach ihm war es keiner mehr. Denn durch sein eigenes Anknüpfen an das Alte Testament war jetzt ein Neues Testament entstanden: das alte war offenbarte Wahrheit, das neue folglich ebenfalls; das alte war wohlbezeugte geschichtliche Chronik, das neue konnte nicht weniger sein. Während das alte aber in später Zeit zielbewusst zusammengestellt und redigiert worden war, war das beim neuen nicht der Fall; hier stand der eine Mann unver- mittelt neben dem anderen. Lehrt z. B. Paulus überall in zähem Fest- halten an dem einen grossen Grundprinzip aller idealen Religion: nicht die Werke, sondern der Glaube ist das Erlösende, so spricht der unverfälschte Jude Jakobus gleich darauf das Grunddogma aller materialistischen Religion aus: nicht der Glaube, sondern die Werke machen selig. Beides steht im Neuen Testament, beides ist folglich offenbarte Wahr- heit. Dazu nun jener klaffende Widerspruch bei Paulus selber! Mögen die Schriftgelehrten sagen, was sie wollen — und zu ihnen müssen 1) Siehe namentlich Pfleiderer: a. a. O., S. III fg. 2) Eingehend und ungemein präcis bei Reuss: a. a. O., Buch V, Kap. 8.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 589. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/68>, abgerufen am 18.04.2024.